Sie sitzen dicht gedrängt und schlafen in Schichten. Sie krümmen den Rücken, weil sie sich nicht gerade halten können oder nicht genügend Platz haben. Die bleichen wächsernen Gesichter deuten auf ein Leben ohne Sonnenlicht und ausreichende Ernährung. Der Hof, in dem sie stehen, ist schmal und hoch wie ein Schacht.

 

Alle warten auf ihr Urteil oder wurden verurteilt. Wer hat das schwerste Verbrechen begangen? Ist ein sanftmütiger Blick ein Hinweis? Wird die Strafe nicht eher den quälen und verhärmen, der sie zu Unrecht oder wegen eines geringen Fehlers austrägt? Wer wurde geläutert? Ist ein zartes schwächelndes Lächeln Ausdruck größter Durchtriebenheit? Das Einzelbild macht ein Urteil unmöglich. Zwanghaft schätzen wir die Person ab. Anders bei einer nur sekundenkurzen Sequenz, aber hier lassen uns die verschiedenen, sich widersprechenden Vermutungen in Ungewißheit harren. Wir verfehmen das Verbrechen nicht. Wir machen unseren Mund nicht auf, um ein Urteil über andere Lebewesen abzugeben, die wir doch nur unvollkommen verstehen.

 

Die Motive zu der Gemäldeserie hat Antje Majewski von der Fernsehdokumentation Die Hölle von Moskau abfotografiert. Die Kamera wandert in die Zellen. Eine frontale Kameraleuchte und die groben Pixel verflachen das Bild, färben es braun und machen das vielschichtige Getümmel unverständlich.

 

Durch ein hohes hinteres Fenster strahlt unvermutet ein weißer Sonnenkranz.

Sicher sind höchstens die einzeln Befragten um ihr Einverständnis gebeten worden. Einige Gefangene bewegen sich vor ins Bild. Es ist nicht zu erkennen, ob sich jemand in den Betten verbirgt. Er könnte schlafen.

 

Will man von einer Person ein Foto machen, verspricht es mehr Erfolg, diese nicht um Erlaubnis zu bitten. Sehr wahrscheinlich wäre es ihr zu beschwerlich, rechtliche Schritte gegen den Fotografen einzuleiten oder ihn gewaltsam zu hindern. Falls sie überhaupt etwas merkt, kann dieselbe Person sich geschmeichelt fühlen, die, wird sie vor die Wahl gestellt, an das Schlimmstmögliche denkt, das mit dem Bild passieren kann.

 

Niemandem ist es verboten, ein Bild aus der Erinnerung zu erstellen. Eine Zeugenaussage ist weniger stichhaltig als eine Fotografie. Dabei fällt es schwerer, unmerklich zu lügen, als ein Foto zu manipulieren. Man mißtraut nicht der Wahrhaftigkeit, sondern der Verläßlichkeit der Zeugenaussage. Wer ein Dokument abmalt, macht es zum Zeugnis. Jemand gibt Zeugnis, dem man selbst keinen Zugang gewähren würde. Der sich nicht rechtfertigen könnte, sondern sich voyeuristisch oder waghalsig vorkäme. War es dem Kamerateam erlaubt, den Gefangenen etwas zukommen zu lassen? Hat das ihre Dokumentation verzerrt? Auch aus der Ferne könnte den Gefangenen vielleicht geholfen werden. Aber es gibt andere, denen es noch schlechter geht und die keinen Anlaß gegeben haben, sie zu inhaftieren.

 

Der Staat beschränkt den, der sich mutmaßlich falsch verhielt, fortan in seinen Möglichkeiten. Nimmt ihm seine Habe, seinen Führerschein, seinen Paß, seine Bewegungsfreiheit bis hin zum Tod. Rächt und verhindert, daß er unmittelbar Vergeltung übt. Nicht das Opfer darf den Täter bestrafen, sondern allein der Staat. Er gilt als neutral und mächtig genug, ein Urteil zu verkünden und zu vollstrecken.

Die Bestrafung soll allen zeigen, daß sich das Verbrechen nicht lohnt. Die Strafe ist von der Entschädigung für die Opfer getrennt. Die Straftat soll sich auch für die Opfer und den Staat nicht lohnen. Während die Inhaftierten zu Niedrigstlöhnen arbeiten, ist die Haft teurer als die Sozialhilfe, insoweit diese besteht. Ein Therapieplatz oder ein Krankenhausbett wären pro Tag noch teurer.

 

Der Staat darf nur im Einzelfall Urteile sprechen, kann aber große Teile der ärmeren Bevölkerung wegsperren, indem er geringste Vergehen schwer bestraft. Das Risiko ist hoch. Wer für einen kleinen Ladendiebstahl lebenslänglich inhaftiert würde, kann auch gleich einen bewaffneten Raubüberfall begehen und wird höchstens mit dem Tod bestraft. Ausdrückliches Quälen ist dem Staat untersagt. Er kann nicht mehr tun, als die Todesstrafe zu verschleppen und in eine lebenslängliche Haft mit anschließender Exekution zu verwandeln. Die Gefangenen haben kein Wahlrecht und werden nicht als arbeitslos geführt.

 

In der Regel bekommen die Gefangenen genug zu essen. Lieber Sklave sein als zu verhungern? Wenn man Sklaven kostenlos und in unerschöpflichen Mengen bekommt, kann man sie auch verhungern lassen. Es kann ein Anreiz sein, mehr als gar nichts zu essen zu haben. Wenn es genug Arbeitskräfte gibt, die nicht lange eingewiesen werden müssen und die die Arbeit ohnehin verschleißt, ist es effektiver, ihnen nicht genügend zu Essen zu geben. Sie können nicht fliehen, weil ihnen die Kraft und das Geld fehlen. Sie stehen bei denen, die bereit waren, sie zu versklaven, in der Schuld.

 

Im Gefängnis bekommt man vielleicht genug zu essen, aber wird von anderen Gefangenen oder Wärtern gezwungen, etwas an sie abzugeben. In Gruppenhaft ist es kaum möglich, sich am anderen ohne Zeugen zu vergreifen. Doch würde einer über das Geschehene aussagen, könnten mehrere das Gegenteil bezeugen. Es braucht kein bestelltes Alibi, die Kumpane sind immer zugegen. Im überfüllten Gefängnis gibt es kein Entkommen für die Petze. Wird sie in eine andere Zelle verlegt, wissen die dortigen Insassen, weshalb.

 

An keinem Ort werden mehr Verbrechen begangen als im Gefängnis. Im Rahmen größter staatlicher Kontrolle folgen die Gefangenen einem eigenen ungeschriebenen Recht. Das Essen wird ihnen bereitgestellt, sie arbeiten unter Anleitung, aber in ihrer Zelle entgehen sie einer kontinuierlichen staatlichen Aufsicht. Ihre Privatsphäre ist kleiner als die einer Familie, allerdings werden die Gefangenen wider Willen gruppiert. Aus einer Familie kann man ausreißen, und denen, die nicht auszureißen wagen, steht wenigstens einer vor, der gar nicht ausreißen will.

 

Die Gefangenen werden zu Verbrechen und Drogen verleitet, denen sie sich vielleicht auch außerhalb des Gefängnisses überlassen. Dann verkürzt sich der erneute Aufenthalt im Freien auf ein Geringes. Dem Schuldigen wird Lebensfähigkeit entzogen, die ihm eine bemühte Rehabilitation kaum zurückgibt.

 

In: Antje Majewski, Einer zu viel, Kunstverein Ulm, Ulm 2001