Malerei und Science-Fiction, Feminismus, künstlerische
Kollaboration und der Anarchismus der Natur – Antje Majewski
im Interview mit Andreas Schlaegel

 

Würde man den Kosmos vermessen wollen, den die Künstlerin Antje Majewski in ihren Arbeiten seit den frühen 1990er Jahren aufspannt, so müsste man sich ein Koordinatensystem wählen, das mindestens drei Achsen umfasst: eine eigenständige Auseinandersetzung mit der Malerei als Mittel der Bildfindung in Wechselbeziehung zur Fotografie und Video sowie unterschiedlichen Möglichkeiten zur Konstruktion von Wirklichkeit; eine kollaborative Arbeitsweise – der Austausch mit Porträtierten, anderen Künstlern und künstlerischen Mentoren, in dem Majewski sowohl als Mittlerin wie auch als Akteurin in Erscheinung tritt. Und schließlich ihre Erzählfreude, ausgebildet an der Lektüre von Science-Fiction von den Brüdern Arkadi und Boris Strugatzki bis zu Philip K. Dick – weil Erzählung Wirk­lichkeit erzeugt, nicht nur vergangene und gegenwärtige, sondern auch zukünftige.

Andreas Schlaegel Nicht jeder Künstler findet Motive für die eigene Arbeit vor der Haustür. Aber bei deinen neuen Arbeiten, die gerade bei Neugerriemschneider in Berlin zu sehen sind, war das so, oder?

Antje Majewski Diese Arbeiten bestehen aus Gegenständen, die aus einem Kleingartengelände gegenüber meines Hauses stammen. Das Gelände wurde im Frühjahr geräumt, die Häuser kaputtgeschlagen, die Obstbäume gefällt, und jetzt ist da blanke Erde. Das Gelände gehörte einer Abteilung der Deutschen Bahn, die ihren Angestellten kleine Grundstücke gegeben hat, um Obst und Gemüse anzubauen. Nun wurde es an einen Investor verkauft, der ein Self-Storage-Gebäude errichten will. Dort kann man sich dann Lagerfläche mieten, beispielsweise wenn man seine Wohnung verloren hat, weil die Mieten so gestiegen sind. Momentan aber ist das Grundstück noch in einem Zwischenstadium, nicht mehr Kleingarten und noch nicht Beton. Für einen Moment sieht man, dass die Stadt auf Erde errichtet ist, im Frühjahr sprossen dort die Pflanzen wieder hervor. Auch wenn ein Bagger drüber rollt, so liegen darunter Stauden. Mich interessiert dieser Moment anarchischer Freiheit mitten in der Stadt. Meine Ausstellung dreht sich im Grunde um diesen Moment der Transformation: von den abgerissenen Häusern zu Gemäldeskulpturen, teilweise bearbeitet und bemalt mit Enkaustik, mit Bienenwachs und Naturfarben; Jade, Malachit, Alizarin Krapplack, Rußschwarz …

AS Die Arbeiten heißen alle E.F.A im Garten (2015) und sind durchnummeriert. Wofür steht das „E.F.A.“?

AM „E.F.A.“ steht für „Eco-Feminist Anarchism“. Ich habe ja drei Jahre mit der Gruppe ff gearbeitet, die ich auch mitbe­gründet habe. Mit der Gruppe haben wir versucht, temporäre autonome Zonen für die Kunst zu schaffen. Von ff habe ich mich zurückgezogen, um mit E.F.A. als kleinerer Gruppe mehr inhaltlich und politisch zu arbeiten. Ich wollte gern Widerspruch gegen die Bebauung des Geländes einlegen, das ist aber leider zunächst gescheitert.

AS Das geht einen Schritt weiter als deine bisherige Arbeit an der sogenannten Gimel-Welt (seit 2009). Die Gimel-Welt verhandelt, so kann man auf deiner Website lesen, die Beziehungen zwischen der Welt des Vorhandenen und der des Möglichen. Was hat es damit auf sich?

AM Die Gimel-Welt besteht aus sieben Objekten aus meinem Atelier – etwa der Meteorit, die Kugel in der Dose, der Hedge Apple –, mit denen ich mich über Recherchereisen in ihre Herkunftsländer auf verschiedenen Kontinenten, mit Gesprächen, Gemälden, Performances, Texten und Videofilmen beschäftige und sie dabei immer genauer kennenlerne. Seit der ersten Ausstellung im Kunsthaus Graz 2011 gibt es Ausstellungen, die einzelne Kapitel zu den Dingen ausformulieren. Die Gimel-Welt ist nicht in sich abgeschlossen, sondern jedes der Objekte ist von den kulturellen Ver­flechtungen und materiellen Eigenschaften, seiner Herkunft, Geschichte und Zukunft her sehr komplex. Und schließlich gibt es ein Museum in der Vitrine mit Museumswärter, dem „Wächter aller Dinge, die der Fall sind“. Darauf bezieht sich eine große Werkgruppe der letzten Jahre, die auch noch wächst, das Museum in der Garage (seit 2013).

AS Hat man es da nicht auch mit einer Art Wunderkammer zu tun, mit einem persönlichen Universalmuseum?

AM Es geht mir da auch um Museologie. Ich dachte darüber nach, welche Funktion ein Museum haben könnte, das nicht nur tote Dinge zeigt, egal ob Gemälde, Skulpturen oder sonstige Artefakte. Die Gimel-Welt-Ausstellungen haben vermehrt dazu geführt, dass ein Rücklauf entstand. So wurden beispielsweise meine Miniaturen aus Ravensbrück (2014) – Gemälde nach Fotografien der kleinen Objekte, die Insassen des Frauen­konzentrationslagers Ravensbrück aus Plastikzahnbürsten geschnitzt hatten – verkauft. Und mit dem Geld können die Originalobjekte in der Sammlung der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück restauriert werden. Solche Schleifen, die in die Realität zurückwirken und wieder etwas verändern, interessieren mich. Mein Eingriff ist nicht nur beobachtend, sondern auch verändernd. Wenn man weiß, dass jede Beobachtung eine Veränderung nach sich zieht, sollte man zu dieser Handlungsmacht auch stehen.

AS Aber wie kommt das zusammen: Handlungsmacht, Gimel-Welt und dann ein Motiv wie der Apfel in der aktuellen Aus­stellung in Mönchengladbach?

AM Mein aktuelles Projekt DER APFEL. EINE EINFÜHRUNG. (immer und immer und immer wieder) (2015) im Museum Abteiberg in Mönchengladbach ist Teil der Gimel-Welt und bezieht sich auf die Kugel in der Dose. Die Kugel kommt aus Polen und führte mich zu Paweł Freisler, einem polnischen Künstler, der 1968 mit einem perfekten Ei aus Stahl als Maßeinheit für alle Hühnereier gearbeitet hat. Freisler hat mir ein römisches Sprichwort beigebracht: „Vom Ei bis zum Apfel“ – also vom Anfang bis zum Ende, denn das Essen begann damals mit einem Ei und endete mit einem Apfel. Die Auseinandersetzung mit dem Apfel mündete in einer Ausstellung im Muzeum Sztuki in Łódź und jetzt in der in Mönchengladbach, in der auch noch das Ei dazukommt.

AS Aber in erster Linie geht es doch um reale Äpfel?

AM Für die Geschichte des Apfels habe ich über zwei Jahre mit Apfelzüchtern, Gentechnikern, Bauern und anderen über den Apfel als Kulturgut und Lebensmittel gesprochen. Dabei habe ich Einblick bekommen, was heute in der Lebensmittelindustrie so los ist, und das in dem Film The Freedom of Apples (2015) wiedergegeben. Apfelzüchter reden wie Künstler. Aber die Nahrungs­mittelkultur, die wir im 19. Jahrhundert noch hatten, ist am Aussterben. Äpfel werden heute durch Anbau und Handel weltweit auf eine Handvoll Sorten reduziert. Man muss sich dazu klar machen, dass „Sorte“ bedeutet, dass alle Einzelbäume derselben Sorte Klone sind – also eigentlich ein einziges Individuum auf Millionen von Wurzelstöcken anderer Sorten, die auch Klone sind. Das ist ein unfassbarer Verlust an genetischer Diversität. Der Film beschreibt eine Situation, in der unsere Kulturpflanzen vom Kapitalismus radikal homogenisiert werden.

AS Erschöpfte sich diese Erörterung im Film oder ging sie darüber hinaus?

AM Wir haben mit den Anwohnern in der Stadt alte Apfelsorten und Wildäpfel gepflanzt und beschlossen, die eingeschlafene Tra­dition des Apfelfests wiederzubeleben. Der Apfel ist etwas, mit dem sich alle identi­fizieren können. Und dann sind da noch Kunstwerke mit Äpfeln zu sehen, auch von Freisler, die hier zum ersten Mal ausgestellt werden: mit Ornamenten beschnitzte Äpfel. Freisler ist mein Mentor in diesem Projekt, wir haben uns nie getroffen, wir mailen nur. Was uns verbindet ist eine Idee von Freiheit, konkreter das, was ich im Kontext von E.F.A mit Anarchismus meine: der Glaube an eine grundsätzliche Freiheit des Natürlichen.

AS Wie meinst du das? Im Sinne einer künstlerischen Freiheit?

AM Eher in dem Sinne, dass Pflanzen nicht besessen werden können. Streng genommen kann nicht mal Erde besessen werden, das sind alles Fiktionen – und zwar solche, an denen die Erde zugrunde geht. Ich denke, dass die Fiktion des Besitzes oder des Geldes nicht funktioniert. Es reicht nicht, sich zu beklagen oder die Dinge zu dekon­struieren. Man muss diese grund­sätzliche Freiheit zum Vorschein bringen, man muss sie zeigen. Viele Menschen sehen die nicht mehr, wir stecken ja, mit Guy Debord gesprochen, mittendrin im Spektakel.

AS Diese beiden Elemente, die Kugel und die Dose, haben dich nicht nur zu Freisler, sondern auch zu dem legendären Filme­macher Alejandro Jodorowsky nach Paris geführt, richtig?

AM Da hatte ich riesiges Glück. Ich überlegte, wem ich meine Sachen bringen kann, der sich viel mit der Bedeutung von Dingen auseinandergesetzt hat. Ich hatte diese Kugel aus Polen und ich hatte eine Dose aus marokkanischem Wurzelholz, die ich in Paris gekauft hatte. Jodorowsky hat sehr lange mit Psychomagie gearbeitet, einer Art situationistischer Psychotherapie anhand von Dingen und Handlungen, die sich aus seinem Teatro Pánico heraus entwickelt hat. Ich habe seine Telefonnummer herausbekommen und ihn einfach gefragt, ob er mir etwas über meine Dinge sagen könnte. Am Ende hat er mich für zwei Stunden zu sich eingeladen. Es hat ihn nicht interessiert, wer ich bin und was ich aus unserem Treffen machen würde, aber er hat gemerkt, dass ich etwas von ihm wollte. Für dieGimel-Welt-Ausstellung in Graz 2011 hat er mir, weil es da auch um falsche Währungen ging, zwei Goldbarren nach Berlin mitgebracht. Sein Sohn hatte die für ihn gemacht, um sich dafür zu bedanken, was Jodorowsky als Vater für ihn getan hatte.

AS Auf Einladung der Neuen National­galerie Berlin wirst du im September auch eine künstlerische Neuerfindung von Allan Kaprows Fluids (1967) im Stadtraum von Berlin realisieren – auch hier bist du nicht allein, sondern hast vier weitere Künstler­Innen eingeladen. Was macht Kollabora­tionen für dich eigentlich so interessant?

AM Mein Talent als Künstlerin besteht vielleicht auch darin, ein gutes Medium zu sein: die Gespräche, Freundschaften, Zeitungsartikel, all das was mich umgibt, durch mich hindurchgehen zu lassen. Dabei finden sie eine Form. Zusammenarbeiten mit anderen Künstlern sind deswegen schön, weil man mit jemandem zusammentrifft, der ja auch schon bündelt. Oft münden meine Einzelausstellungen am Ende in ein kollaboratives Format. Alleine wäre so etwas wie die Kaprow-Neuinterpretation langweilig, also habe ich den Kreis der Beteiligten erweitert. Manchmal sind Arbeiten schlicht zu groß für eine Person. Dann muss man das mit mehreren denken. Mir widerstrebt es aber, zu sagen, was zu tun ist. Schon wenn ich für meine Gemälde mit Modellen zusammengearbeitet habe, dann waren das für mich Akteure und das Ganze eine Kollaboration. Ich habe beispielsweise 2000 für ein Bild und ein Video mit Krylon Frye aka Krylon Superstar zusammengearbeitet, einem Performer und Sänger aus Los Angeles. Der hatte seine ganze Garderobe dabei – so etwas hätte ich alleine gar nicht machen können.

AS Es gibt also ein dialogisches Prinzip auch in der Malerei. Aber findet man Bilder nicht auch in der inneren Versenkung?

AM Beides. Für die Malerei ist es schon so, das kann ich leider nicht anders beschreiben. Richtig gute Bilder müssen einfach auftauchen, und die tauchen erst auf, wenn man sich mindestens zwei Monate ganz mit einem Motiv beschäftigt hat. Wenn man schon völlig erschöpft ist, dann muss man etwas ganz anderes machen, und plötzlich taucht dann dieses Bild auf. Danach aber hat man ein anderes Problem: die Umsetzung. In der Umsetzung muss man wieder Freiheit zulassen. Diese Vision, die ich habe, ist ja nicht ausformuliert, aber die Grundidee oder Stimmung, die muss im Kopf ganz klar sein. Sonst brauche ich nicht ins Atelier zu gehen. Manchmal gehe ich ein halbes Jahr nicht ins Atelier.

AS Welche Ideen motivieren dich dann weiter zu malen?

AM In der chinesischen Landschaftsma­lerei gibt es die Vorstellung, dass der Maler Medium für einen Ausdruck des größeren Kosmos ist. Gut malen erfordert sehr viel Übung, damit das Qi, das man nicht erzeugt, sondern an dem man teilhat, möglichst un­gehindert in das Bild und durch es hindurch fließen kann. Das hebelt die femi­nistische Kritik am Genie aus und führt dazu, dass ich nun wieder Handschrift zulassen kann. Früher habe ich immer ganz rigide nach Vorlagen gearbeitet, aber ich hatte schon lange Lust, freier zu arbeiten, und habe in den letzten Jahren sehr viel direkt vor den Objekten gemalt. Über die Auseinandersetzung mit chinesischer Kunst- und Naturtheorie hat sich mir eine andere Form von Malerei eröffnet, die, so hoffe ich zumindest, gerade erst im Anfang steckt und für die ich noch lange brauchen werde.

AS Gibt es denn MalerInnen, die du gut findest?

AM Kerry James Marshall war für E.F.A. im Garten wichtig. Er hat in manchen Bildern die panafrikanische Flagge verwendet, da dachte ich: super Idee! Ein groß­artiger Maler, auch wie er mit politischen Narrationen umgeht. Agnes Martin ist dazu ein Gegenpol. Sie zog sich in die Wüste zurück, ohne Fernseher, Radio, sie las kaum oder bekam kaum Besuch. In einem Interview sagte sie, sie habe aufgehört zu medi­tieren, als sie gemerkt hat, dass sie nicht mehr denkt. Diese beiden Haltungen widersprechen sich nicht unbedingt. Würde ich den Stein malen, von innen heraus, dann müsste ich das Denken tatsäch­-lich aufgeben, denn der Stein denkt ja nicht. Aber als Mensch kann ich ihn mit allen Möglichkeiten, die ich habe, in seiner Umgebung wahrnehmen. Beides ist ja gleichzeitig da.

AS Liegt in der Verhandlung des Möglichen auch dein ausgeprägtes Interesse an Science-Fiction begründet?

AM Richtig, meine Arbeit Entity (2009), die im Rahmen der Ausstellung Future Perfect des Goethe-Instituts seit 2014 um die Welt reist und momentan in Brasilien zu sehen ist, basiert auf einer Science-Fiction-Geschichte, die ich selbst geschrieben habe, die aber ganz bewusst Anleihen bei Science-Fiction-Autoren macht, die ich toll finde. Die Arbeit ist kurz vor der Gimel-Welt entstanden und dann Teil von ihr geworden. Es geht darin um den Hedge Apple, eines der Objekte der Gimel-Welt. In Entity war er nur ein virtuelles Objekt, aus dem Internet gefischt, um auf dem Gemälde eben die „Entity“ darzustellen: ein Objekt, das eine Künstlerin namens Antje Majewski zusammen mit einer Biotechnologie-Firma erzeugt hat, eine lebende Monade, die sich von innen heraus verzehrt und ansonsten keinen Austausch mit der Umwelt hat. Er ist das Kunstobjekt der Zukunft, das alle Kunst­objekte ersetzt. Bei der Reise um die Welt bitte ich nun an jedem Ort Leute, eine neue Narration zu schreiben, Sebastian Cichocki in Polen beispielsweise, oder jetzt die Agência Transitiva, eine Gruppe junger KünstlerInnen in Brasilien.

AS Gibt es den Hedge Apple wirklich?

AM Der Hedge Apple wird auch Osage Orange genannt, nach der Osage Nation, einem indigenen Stamm Nordamerikas. Für sie war das Holz perfekt, um Bögen für die Jagd daraus zu machen. Dann kamen die europäischen Siedler, und das stachelige Gehölz wurde nun gepflanzt, um Rinder­herden abzugrenzen. Die Früchte sehen aus wie merkwürdige Äpfel, aber man kann sie zu nichts verwenden. Kein Tier mag sie, möglicherweise hat das ausgestorbene Riesen­faultier die Früchte gefressen. Bei mir stellte der „nutzlose“ Hedge Apple zunächst eine Monade dar, aber als Osage Orange, also in der Natur, hat man es eigentlich mit einer Multikernfrucht zu tun. Das heißt, jedes Segment hat einen Kern, wie eine einzelne Frucht, und kann sich einzeln aus­sähen und neue Pflanzen machen. Auch das könnte Kunst sein.

Published in frieze d /e NO. 2 1 SEP T EMBER – NOVEMBER 2015, p. 106-115