Zwischen Pop-Art und 68-er-Bewegung scheint es nicht viele Anknüpfungspunkte zu geben. Das gilt auch für die europäische Pop-Art, die im Vergleich zur Kunst in den USA meist kritischer, theorielastiger und distanzierter war und auch damals schon so empfunden wurde. Öyvind Fahlström wird oft in den entsprechenden Anthologien als europäischer Pop-Künstler geführt, kann aber gleichzeitig als ein typischer Vertreter der 68-er gelten, der als einer der wenigen versucht hat, seine Überzeugungen auch in Kunst umzusetzen. Wie paßt das zusammen?

Fahlström verwendete Comics seit Ende der 50er Jahre, wenig später tauchen Zeitungsfotos, Filmstills und Schlagzeilen auf: diese Verwendung der Sprache der Massenmedien spricht ebenso wie seine persönlichen Freundschaften und die Zusammenarbeit mit Künstlern wie Claes Oldenburg und Robert Rauschenberg, die er neben vielen anderen Pop-Künstlern nach seinem Umzug nach New York 1962 kennenlernte, für seine kunstgeschichtliche Einordnung in diesem Umfeld, von dem sich aber niemand in der Folge so wie Fahlström für Drogenerfahrungen, Mao, Robert Crumb und Feminismus begeisterte oder über die Rolle der USA in der dritten Welt empört war. Darüber hinaus ist Fahlström ein poststrukturalistischer Künstler. Da er sich selbst nie zu einer Gruppe oder Bewegung gezählt hat, bleibt die Frage der Einordnung von außen herangetragen. Spannender ist es, den Weg eines Künstlers zu verfolgen, der von seinen ersten bis zu seinen letzten Arbeiten eine erstaunliche Kontinuität in der Theorie und daraus folgenden Struktur seiner Werke zeigt, auch wenn sie inhaltlich weit voneinander entfernt liegen und noch dazu in unterschiedlichen, sich kaum vermischenden Medien ausgeführt wurden.

In seinen Bildern, Installationen, Gedichten, Theaterstücken, Hörspielen und Happenings ist es immer wieder möglich, auf Gedanken zurückzukommen, die Fahlström schon während der Arbeit an seinen ersten Gedichten beschäftigten. Es gibt sogar bestimmte Formulierungen und Vergleiche, die über den ganzen Zeitraum hinweg immer wieder verwendet werden. Fahlström hatte das Bedürfnis, seine Positionen in Manifesten und Artikeln zu klären, die nun eine wesentliche Hilfe beim Verständnis seiner Werke sind und es ermöglichen, sowohl die Einheit wie auch die folgerichtige Entwicklung dieser Gedanken zu nachzuvollzuziehen. Ich möchte dies nun versuchen, indem ich gleichzeitig einige besonders wichtige Werke zeige. Aus Anlaß dieser Ausstellung beschränke ich mich bei der Besprechung auf den bildenden Künstler Fahlström.

In den 50er Jahren in Schweden hatte wohl kaum jemand, der ihn näher kannte, daran gedacht, daß Fahlström noch etwas anderes sein könne als Dichter, Intellektueller und freier Journalist, der die Kulturseiten von Dagens Nyheter und Expressen mit wilden, neuen Themen bereicherte. Er hatte zwar Kunstgeschichte und Archäologie studiert, beschäftigte sich aber mit allem, was er unter die Finger bekommen konnte, von elektronischer Musik bis Science-Fiction. In der zeitgenössischen Literatur kannte er sich sehr gut aus und hat als einer der ersten Gertrude Stein, Antonin Artaud und den Marquis de Sade ins Schwedische übersetzt. Er schrieb aber auch über Filme, konkrete Poesie und mexikanische Buchmalereien und kannte die Geschichte des Surrealismus sehr genau.

Alles, was bis jetzt genannt worden ist, und noch einiges mehr, floß in seine frühen Arbeiten ein. Ich muß am Anfang nun auf den Dichter Fahlström eingehen, weil die in dieser Zeit entwickelte Theorie, die zunächst Sprache betraf, für alles Folgende so wichtig ist.

1950 erschien ein erstes, deutlich vom automatischen Schreiben des Surrealismus beeinflußtes Gedicht, das ungewohnte Wortbilder erfand. Das Gedicht MOA ( 1 ), vier Jahre später entstanden, ist dagegen ein äußerst strenges und zugleich äußerst freies Gebilde, das eine Technik der zeitgenössischen seriellen Musik auf konkrete Poesie anwendet. Es besteht aus Wortlisten, aus denen in jeder möglichen Leserichtung Sätze gebildet werden können. 1953 erläuterte Fahlström in seinem ersten Manifest, dem “Manifest für eine konkrete Poesie”, sein Vorgehen, das man von heute aus ein postmodernes nennen müßte, wenn das Wort nicht so unbrauchbar geworden wäre.

Er ist unzufrieden damit, die “ewigen Mythen” noch einmal zu erzählen, auch wenn dies mit psychoanalytischer Symbolik geschieht. Die erzählenswerten Geschichten seien schon erzählt.

Deshalb fordert er eine strukturelle konkrete Poesie, der die vorhandene Sprache lediglich als Basismaterial dient. Wörter, Silben und Buchstaben haben denselben Rang und können bestimmten Regeln folgend untereinander ausgetauscht werden. So entstehen “worlets”, die keine Bedeutung mehr tragen. Dieses neu entstandene Material, in dem auch Wörter oder Partikel der vorhandenen Sprache vorkommen können, kann nun nach selbstgewählten Systemen manipuliert werden. “Sagen wir nichts Schlechtes über Systeme: wenn man sie sich selbst wählt und nicht einfach nur den Konventionen folgt. Die Frage ist nicht, zu wissen, ob ein System in sich selbst das einzig Wahre ist. Es wird dazu, weil man es gewählt hat, und man hat es gewählt, weil es ein gutes Resultat bringt.”

Das Endprodukt dieser Manipulation, der Text oder das Gedicht, ist formalistisch und artifiziell, was in Fahlströms Augen einen entscheidenden Zugewinn an Freiheit ermöglicht. Das selbstgewählte System kann selbst automatisches Schreiben als einen Ausgangspunkt für das Material einschließen, als “Mittel zum Zweck” also. Die Einheit des Werks wird nicht durch den Inhalt geleistet, sondern durch ein Zusammenfallen von Form und Inhalt in der angewandten Struktur. Darüber hinaus können textübergreifende Strukturen aus Rhythmen und Motivwiederholungen die Sprache musikalisch lesbar machen, eine Art lingualer Jazz. Auf der “inhaltlichen” Ebene entsteht eine neue Sprachlogik, die sich mit ihren assoziativen und gleitenden Bedeutungen, wie sie durch gleichklingende Wörter, Wortkombinationen, Wiederholungen und “Sympathiezauber” entstehen können, an die Logik der “Primitiven, Kinder und Geisteskranken” anlehnen soll.

Die Gewißheit der vertrauten Beziehung zwischen Wort und Bedeutung soll unterminiert werden. Ungewohnte Zusammenstellungen und “worlets” “lassen den Leser die konventionellen Bedeutungen als arbiträr oder als gerade so sicher wie die neu – attribuierten Bedeutungen erfahren. Dadurch wird eine produktive Unsicherheit über die Verbindung von Wort und Phänomen sowie “ein fruchtbares Interesse an der Form selbst” erzeugt. Dem Leser wird deutlich, daß er auch in im konventionellen Sinn sinnlosen Sätzen noch Sinn erzeugt oder nach Bedeutungen sucht, die Produktion von Sinn und Bedeutung also seine eigene Tätigkeit ist.

Interessant ist, daß Fahlström nicht nur die Sprache als Konvention, sondern auch Gedankenprozesse als abhängig von Sprache begreift. Wenn man demnach Sprachkonventionen durch ein selbstgewähltes System mit eigenen Vokabeln ersetzt, erweitert man nicht nur die Grenzen der Sprache, sondern auch die des Denkens durch einen Zuwachs an Möglichkeiten und Spielräumen, deren Strukturen genauso kontingent sind wie die der Realität, für die sie damit eines der möglichen Modelle sein könnten.

Fast zeitgleich mit diesem Manifest beginnt Fahlström, diese für die Poesie angestellten Überlegungen auch auf Zeichnungen anzuwenden. Dabei stellt sich ihm schon bei der Arbeit an seiner ersten wichtigen Zeichnung, Opera ( 1952-55 ), die Frage, wie man den Betrachter auf ähnliche Art wie den Leser der konkreten Poesie dazu bringen kann, Bedeutung selbst zu produzieren und sich dessen bewußt zu werden, weil eine über das bloße Lesen / Betrachten hinausgehende Handlung dazu nötig ist. Die Lösungen, die Fahlström über die Jahre hinweg findet, lassen sich alle als Variationen dieser Frage sehen, ob es sich nun um Spielbretter, Ausschneidepuppen oder schwimmende Flipperautomaten handelt. Die Spielregel von Opera ist dagegen sehr einfach, sie lautet: lies und sieh, während du gehst. Was Sie hier sehen, ist nämlich nur ein winziger Ausschnitt. Tatsächlich ist die Zeichnung aus vielen Teilen zusammengesetzt, die sich als ein nur 27cm hohes, aber 11, 85 m langes Band um einen ganzen Raum herumziehen kann, wie es bei ihrer ersten Ausstellung der Fall war. Es ist unmöglich, die Zeichnung auf einen Blick zu erfassen. Man muß sie zeitlich nacheinander wie ein Buch oder eine Partitur lesen, in der die aufeinanderfolgenden abstrakten Zeichen Rhythmen bilden, sich wiederholen, sich verändern oder auch nur einmal auftauchen, um dann zu verschwinden.

Fahlström hatte die mexikanischen Bildrollen vor Augen, die man ebenfalls nur nacheinander betrachten kann. Die Zeichen scheinen manchmal nordischen, manchmal mexikanischen Ursprungs zu sein, oft auch durch automatisches Zeichnen entstanden.

“Es fühlte sich an wie eine große Entdeckung: nicht ( nur ) eine kontinuierliche Sequenz von Motiven, sondern eine Entscheidung-das hier ist wichtig, das soll eine Rolle spielen. Wiederauftauchen in anderen Kontexten, und verändert auftauchen, aber wiedererkennbar.”

Dieses Wiederauftauchen von einmal gefundenen Formen geht dabei weit über die einzelne Arbeit hinaus. Sie tauchen oft Jahre später in anderen Arbeiten wieder auf. Sie werden für eine Zeit lang zu Fahlströms Privatvokabeln, zu graphischen “worlets” auf der Suche nach einer Grammatik, einer Kompositions- oder Spielregel.

Fahlström dachte dabei an “eine ‘unreine’ Mischung von Konzert und Theater, wie man sie in der Oper findet.” Die Musik bilden die Rhythmen und Wiederholungen, später die Spielregeln, während die Zeichencharaktere bzw. Charakterzeichen, wie Fahlström sie nennt, die Rolle der Handelnden, also das Theaterspiel, übernehmen. Dabei “spielen” sie ihre Rollen nur, ohne sie zu “sein”; ein Zeichen kann nur “aussehen wie”, bedeutet aber niemals etwas Eindeutiges. Der Vergleich mit der Oper, den Fahlström gerne gebrauchte, ist insofern nicht durchführbar, als der Opernbesucher passiv bleibt, während der Betrachter bei Fahlström das Werk erst zusammensetzt oder spielt. “Ich wollte, daß die Leute nicht nur ihre Augen bewegen sollten, sondern ihre ganze Person, an dem Bild entlang und in ihm herum, als ob sie eine Karte lesen würden oder Monopoly oder Fußball spielen. Mein Hauptinteresse war damals die Spielidee (…)”

In den Bildern, die ich nun besprechen möchte, sind die Spielregeln schon komplizierter geworden.

Die Ade-Ledic-Nander-Bilder waren als ein großer Zyklus von ungefähr zwanzig Ölbildern geplant, von denen nur zwei ausgeführt wurden, das kleinere Ade-Ledic-Nander I ( 1955 ) und das große Ade-Ledic-Nander II ( 1955-57 ). Der Titel bezieht sich auf eine Science-Fiction-Geschichte, in der sich die drei außerirdischen Clans oder Gesellschaften von ADE, LEDIC und NANDER bekriegen, sich auffressen oder koexistieren.

“Es sollte ein großes Epos der Individuen, der ‘Charakterformen’ sein”, schrieb Fahlström in den “Notes on Ade-Ledic-Nander II and some later developements” von 1963. Die Charakterformen sind durch bestimmte formale Kennzeichen den verschiedenen Clans zuzuordnen, die durch Familienähnlichkeiten miteinander verbunden sind: so ist zum Beispiel ein typischer ADE im Besitz eines “Punkt-Antennen-Stabilisators”, hat kühle Farben und ein schwarzes Dreieck mit mehr oder weniger weißen Streifen in der Mitte, die die Wohlgenährtheit oder Schwäche des Individuums anzeigen. “Diese und fünf bis zehn weitere Konditionen ( Spielregeln ) lassen die ADEs leben, kämpfen, sich vermehren, zusammenbrechen, sich unterordnen, einfrieren etc.”

Diese Menge an formalen Festsetzungen wurde von Fahlström in einer 30-seitigen “Analyse und Beschreibung” und zwei topographischen Karten festgelegt, ohne deren Hilfe man die Vorgänge auf dem Bild nicht entschlüsseln kann. Hier ist es nicht das Nacheinander, sondern die Simultaneität der Fülle an kleinteiligen Ereignissen, die das Bild nur in zeitlich aufeinander folgenden Schritten lesbar machen, ob das nun mit Hilfe der Erklärungen oder ohne sie geschieht. Freunden wurde es zunächst mit einem Tuch verhüllt vorgeführt, das durch ein Loch nur einen kleinen Ausschnitt sichtbar machte, der dann minutiös erläutert wurde. Fahlström wünschte sich, daß bei Reproduktionen immer auch Details gezeigt werden sollten. ( Ich werde nun aber nicht damit anfangen, das Bild im Einzelnen zu erklären, das würde zu lange dauern ).

Das durch künstliche Spielregeln in Gang gehaltene Epos bildet eine in sich geschlossene und logische Welt auf einem anderen Planeten, auf dem die hiesigen Gesetze keine Anwendung finden. Die Bewohner dieses Planeten haben jedoch eines mit irdischen Lebewesen gemeinsam: ihr Sozialleben und ihre Kommunikation sind durch komplexe Regeln geordnet. So würde, wenn auch keine Kommunikation, doch ein struktureller Vergleich zwischen den beiden Parallelwelten möglich, die sich gegenseitig als Modelle für Strukturen von Funktionsweisen dienen können. Es ist eine aus dem Nichts geschaffene Welt, die in sich nicht weniger wahrscheinlich ist als die Welt, die wir kennen. “Ich bin hauptsächlich daran interessiert, Bilder zu machen, die Welten sind, indem ich die Welt manipuliere – indem ich Modelle der Welt schaffe und in Beziehung setze – nicht Symbole – jeder kann hineinlesen, was immer er darin findet, wenn er nur ( einige der ) Beziehungen sieht: was gleich ist, ungleich, wiederholt, entgegengesetzt etc.”

Die hermetische Formenwelt der Ade-Ledic-Nander-Bilder wird in den folgenden Jahren mehr und mehr durchsetzt von einer Bildsprache, von der man populärste Verständlichkeit erwartet: die der Comics. 1961 ging Fahlström nach längeren Aufenthalten in Paris und Italien mit seiner zweiten Frau Barbro Östlihn nach New York, wo er bis auf die Sommer in Schweden auch blieb. Es wäre nun einleuchtend, das Auftauchen von Comics auf den Einfluß der jungen Popkünstler zurückzuführen, mit denen er sich anfreundete. Tatsächlich hatte Fahlström diese neuen Zeichnungen aber schon im Gepäck, als er ankam. Seine Faszination gründete nicht in der Schönen Neuen Welt Nordamerikas, sondern in der Zugänglichkeit der Comics, die der in den konkreten Poesien manipulierten Alltagssprache viel äquivalenter war als seine Privatkürzel. Der Schock des Nichtbegreifen-Könnens, die Versuche, doch etwas zu erkennen, waren für den Betrachter dementsprechend größer.

In drei Tuschezeichnungen läßt sich der Übergang von Fahlströms Privatsprache zu den der öffentlich kodierten Comic-Sprache entnommenen Zeichen-“worlets” verfolgen. Beide Sprachen schließen einander nicht aus. “Festin en Edlund”, 1955, ist ein “Opera”, das wie eine Ziehharmonika zusammengefaltet und so auf einem Blatt untergebracht wurde. In “Festin en Mad” von 1958-59, das sich schon im Titel auf ein amerikanisches Comic-Magazin bezieht, gibt es schon Comicfragmente, die schließlich in “Dr.Livingstone, I presume” ( 1959 ) die ganze Bildfläche überschwemmt haben-dezentral und energiegeladen wie ein Pollock, aber nicht in stürmischer Geste auf die Leinwand geworfen, sondern in einer Vorstudie mühevoll aus winzigen Schnipseln zusammencollagiert, um dann mit Tusche auf Leinwand übertragen zu werden.

Das Prinzip erinnert an Cage, über den Fahlström noch in Schweden geschrieben hatte. Cage hatte Kompositionen aus den Fragmenten eines auseinandergeschnittenen Tonbands mit Geräuschen gemacht, die zufällig neu zusammengefügt wurden. Während sich Cage dabei jedoch auf sein Verständnis des Zen-Buddhismus berief, interessierte sich Fahlström für die Theorien von Arthur Koestler, der in “The Roots of Chance” vorschlägt, neben der für uns kausalen Welt noch wenigstens eine a-kausale Welt anzunehmen, in der die Strukturen des Zufalls einen uns unbekannten Sinnzusammenhang bilden. Somit gibt es keinen Zufall, sondern nur uns zum Teil nicht wahrnehmbare Kausalitäten. Wenn ein a und ein b zusammentreffen, ergibt sich also nicht eine bloße Metonymie, sondern es ist immer eine Relation zwischen diesen scheinbar zufällig Aneinandergeratenen anzunehmen. Unsere unbewußten Assoziationsketten können auf diesen Zusammenhang in einer zweiten Kausalität verweisen. Diese Relation zwischen a und b nennt Koestler “Bisociation”, ein Ausdruck, den Fahlström gleich zweifach übernimmt, einmal für das, was Koestler meint, dann aber auch im Sinne seines Wunsches nach “Opern”, nach der Spannung, die im Aufeinandertreffen von nicht Zusammengehörigen liegt, der “unreinen Mischung” aus Komposition und Theater. Das Mitdenken oder Assoziieren des Betrachters erzeugt eine Fülle von selbst für den Künstler nicht vorhersehbaren “Bisoziationen”.

Somit ist es ein logischer Schritt, die Manipulationsmöglichkeiten für den Betrachter noch größer zu machen. Der Versuch, den Zuschauer in das Kunstwerk oder in das Happening einzubeziehen, lag damals in der Luft. Die fließenden Übergänge zwischen Kunst und Leben, die viele damals erreichen wollten, gibt es allerdings bei Fahlström – übrigens auch in seinen Happenings und Theaterstücken – nicht. Zunächst konnte der Betrachter, der nun zum Mitspieler auch im physischen Sinn wird, einzelne Teile auf der Oberfläche der Bilder mittels Magneten versetzen und sich so eine eigene Geschichte zusammenfügen, so zum Beispiel in “Sitting… Six months later” ( 1962 ), dem ersten großen “variablen Bild”, das durch die weißen Balken suggeriert, daß eine solche Geschichte vorhanden sei und es dementsprechend auch einen “richtigen” Ort für die variablen Sprechblasen gäbe. Den gibt es natürlich nicht. Jeder Ort macht genauso viel Sinn, nämlich keinen, der nicht durch die Assoziationen des Mitspielers hergestellt würde.

Die Freiheit, die Fahlström hier dem Rezipienten bietet, liegt nur darin, Entscheidungen zu treffen, die Variationen innerhalb eines vorgegebenen Rahmens herstellen. Das Spiel kann weder Gewinn noch Verlust bringen und somit auch keine Spannung, da sich im Grunde nichts ändert. Der Spieler stößt an dieselbe “Rigidität der äußeren Erscheinungsform”, die nach Fahlströms Ansicht die Konventionen und Regeln der realen Welt besitzen, lediglich ersetzt durch die des Modells, des Kunstwerks.

“Das fundamentale Prinzip der Spielbilder (..) ist die Konfrontation zwischen der Freiheit der Variation und der arbiträren Unveränderlichkeit von Aussehen, Substanz und Konstruktion. Daher mein Interesse an Zeichen, das heißt Stereotypen, und Objekten als Umrissen. (..) Der entscheidende Faktor ist, daß ich als ‘Künstler’ und ich und andere als ‘menschliche Wesen’ in jedem Augenblick unseres Lebens konfrontiert werden mit dem, was wir als die absolute Rigidität der Erscheinungen sehen, und unsere eigenen Variationsmöglichkeiten darauf einstellen. (..) Nach diesen fundamentalen Fakten kommt die fragile Rigidität der anderen Regeln – wie unserer Konventionen und Vereinbarungen. (..) Die Spannung liegt darin, daß es möglich ist, sich der Rigidität gegenüberzustellen – so wie in meinen Modellen”. Die Freiheit soll also darin liegen, sich der eigenen Freiheit in der Variation durch die Manipulation bewußt zu werden. Eine solche Freiheit hat allerdings etwas Beengendes.

“The Planetarium” von 1963 kann das sehr gut illustrieren. Wie schon bei den Ade-Ledic-Nander-Bildern übernimmt Fahlström sein Modell für Realität von einer literarischen Vorlage, die er auf beschriebene Funktionsweisen hin komprimiert. An die Stelle der erzählten Zeit tritt ein gleichbleibender Zustand, der vom Betrachter wiederum in der Zeit variiert werden kann. Der Titel stammt von einem Roman von Nathalie Sarraute, Vertreterin des Nouveau Roman, die vor allem für ihre Tropismen bekannt ist, innere Monologe, die um sich selbst kreisen und deutlich machen, daß es keine Wahrheit gibt, an der man für sich selbst oder für andere festhalten könnte. Jeder sieht durch die Augen eines Anderen gesehen anders aus. Eine echte Kommunikation gibt es nicht. Im Grunde redet jeder nur mit sich selbst, ohne auch sich selbst wirklich erkennen zu können.

Fahlström übersetzt diese Vorgabe in ein variables Bild, in dem der Monolog einer Frau zu sehen ist, innerhalb dessen die leeren Silouetten der Anderen nur durch Kleidungsstücke identifiziert werden. So lassen sich verschiedene Personenkonstellationen zusammenstellen, jeweils durch eine Klammer zusammengefügt. Jedem Kleidungsstück entspricht ein Wort aus einer Passage des Romans, das auf einer zweiten Tafel eingesetzt werden muß. Dadurch ergeben sich zufällige Sätze wie zur Zeit der konkreten Poesie. Auch wenn man die ursprüngliche Passage zusammensetzt, ergibt sich umgekehrt keine sinnvollere Personenkonstellation.

Die Figuren ähneln Ausschneidepuppen aus Papier, denen man verschiedene Kostüme anziehen kann. Fahlström nannte “The Planetarium” ein “puppet theatre psychodrama”. Das Psychodrama entsteht aber nicht zwischen den Personen, und es kennt keine Entwicklung und keinen Höhepunkt. Insofern kann es kein Modell abgeben für soziale Rollenspiele, wie sie zum Beispiel der populäre Psychologe Eric Berne untersuchte, für den sich Fahlström damals interessierte. Ein soziales Rollenspiel kann ebensowenig entstehen, wie “The Planetarium” als Gesellschaftsspiel gespielt werden kann. Am ähnlichsten ist dem Effekt der “Spielbilder” Fahlströms ein Gesellschaftsspiel, bei dem ein Blatt weitergereicht wird, auf das jeder eine Fortsetzung malen oder schreiben muß, ohne das Ganze zu sehen, weil das Blatt geknickt ist. Zum Schluß erzeugt die entstandene absurde Zeichnung eine Heiterkeit, die sich schon nach dem vierten oder fünften Mal erschöpft. Auch hier gibt es keinen Sieger oder Verlierer.

“The Planetarium” ist trotz seiner zarten Pastellfarben und feinen Umrisse ein trostloses Bild eines sinnlosen, kommunikationslosen, auswegslosen, beziehungslosen und vollständig kontingenten Daseins. Die Freiheit, die es erlaubt, eine Sprache an die Stelle einer anderen zu setzen, bedingt gleichzeitig die Einsicht in den Zufall, der uns Personen bestimmte Rollen zuschreiben läßt, seien es auch solche wie “Freundin” oder “Bruder”.

Es mag mehr Spaß machen, auf anderen “Bilderorgeln” dieser Zeit zu spielen, die nicht so strengen Regeln folgen und auch nicht so präzise Aussagen machen. “The Cold War” ( 1963-65 ) ist wie “The Planetarium” als Modell eines Gesellschaftsspiels gedacht, wobei die Spieler hier nicht einzelne Menschen sind, sondern Nationen bzw. Gesellschaftssysteme: der Kalte Krieg mit seinem Gleichgewicht des Schreckens. Wieder ist ein Zustand gemeint, nicht eine Entwicklung, ein Modell, nicht eine Darstellung oder politische Analyse.

Auf den beiden Seiten des Bildes lassen sich bewegliche Elemente verteilen, die oft zweifach vorhanden sind, wenn auch nicht genau gleich: zwei Köpfe, davon einer mit Haaren, zwei Handbälle, davon einer kleiner, zwei Balustraden oder Zäune, davon einer zerbrochen. “Weniger exakte Regeln werden angewandt, wie in “The Cold War”, wenn zum Beispiel die Objekte aus Paaren bestehen, oder Gefährten haben-was ich mit A tue, hat Bedeutung für A’, wo immer A’ sich befindet ( Modell für das Gleichgewicht des Schreckens )”. Die Waffen halten sich die Waage, auch wenn sie nicht ganz gleich sind, auch wenn der Zusammenhang, in dem sie stehen, ein anderer ist.

Die Figuren, Gegenstände und Szenerien erzeugen oft eine Beklemmung oder Verunsicherung, die man nicht genau deuten kann: ein zerstückeltes Südseeatoll, über dem ein Sturm tobt – ein Atomtest? Sind die Ratten Versuchstiere, die Grube in der öden Landschaft ein Massengrab nach der Apokalypse?

Auf der “neutralen” Zone in der Bildmitte befindet sich ein “Ja-Nein-Indikator”, wie sie in Schweden während der Wahlen benutzt werden, um das sich verändernde Ergebnis anzuzeigen. Hier kann der Pfeil Richtung “West” oder “Ost” eingestellt werden, eine Wahl zwischen zwei gleich großen Übeln, denn die Bildhälften unterscheiden sich ja nicht wesentlich. Der Kalte Krieg spielt eine einmal festgelegte Konstellation immer neu durch. Trotzdem ist das Spiel für den Mitspieler interessanter, denn er ist es, der die Bilder seinen eigenen Assoziationen oder Kompositionsvorstellungen folgend zusammenstellen kann. Die Bilderorgel kann, richtig gespielt, derselben Logik einer zweiten Wirklichkeit folgen, wie es Sätze der konkreten Poesie mit ihrer Logik von Kindern, Geisteskranken und Surrealisten taten und wie es auch die Bilderproduktion jedes Menschen tun kann, wenn man die Gedanken fließen läßt.

In der Installation “Dr.Schweitzer’s Last Mission” ( 1964-66 ), die 1966 im schwedischen Pavillon der Biennale von Venedig gezeigt wurde, haben die “cut-outs”, also die beweglichen, ausgeschnittenen Elemente die Bildfläche verlassen und verteilen sich im Raum, ohne dabei selbst dreidimensional zu werden. Man befindet sich in der Bilderorgel, nicht davor, aber es bleibt im Grunde ein Bild und wird nicht zum Environment, was besonders der Vergleich mit “The Street” von Claes Oldenburg oder den Moticos von Ray Johnson zeigt. Die Elemente ähneln im Zeichenstil und der Wahl von beunruhigenden oder erschreckenden Szenen denen von “The Cold War”, bei dem die leere Bildfläche schon ein bloßer Träger für die einzelnen Bilder gewesen war. Wenn sich in “The Cold War” zwei Interessen Fahlströms trafen, dasjenige an einer “unlogischen”, aber trotzdem nicht zufälligen Bildsprache und das für Modelle, die in den kommenden Jahren zunehmend gesellschaftliche und politische Realität spiegeln, dann ist “Dr.Schweitzer’s Last Mission” zunächst der größte Versuch in der ersten Richtung. In dieser Bildsprache kann man entweder denken, oder man kann es nicht. Kritiker bemängelten das “Fehlen einer kohärenten künstlerischen Identität” – eine solche im Sinne von Selbstausdruck und triumphierender Individualität wird durch die Spielbilder allerdings unmöglich gemacht. Man sieht einen “privaten und hermetischen Mythologisten”, der eine “verdunkelte und verschwommene Reflexion des modernen Lebens” bietet, bei der “alle möglichen Kombinationen zu der selben Nullität an investierter Bedeutung führen” ( so Dennis Adrian im Artforum ).

Obwohl Fahlström zu Recht mit W.S. Burroughs verglichen wurde, der ebenfalls eine cut-up-Technik verwendete, die Sätze neu zusammenfügt, hat damals erstaunlicherweise niemand an eine zweite Ähnlichkeit gedacht: die mögliche Herkunft der halluzinatorischen Bilder aus Drogenexperimenten. Wie viele andere Künstler hat Fahlström in dieser Zeit Haschisch und LSD ausprobiert. Er schrieb für die Legalisierung von Haschisch und verursachte 1968 einen kleinen Skandal in Schweden, als er in einer Talkshow erklärte, er werde jetzt eine Haschpfeife rauchen.

Das Multiple “LSD-ESSO” ( 1967 ), läßt vermuten, daß die LSD-Erfahrung für ihn in vereinfachender Weise für das Gegenprinzip zur kapitalistischen Welt der großen Konzerne stand. Der Corporate Identity von Esso steht im selben Design eine Droge gegenüber, von der sich viele damals Satori-Erlebnisse erhofften, zumindest aber eine größere Einsicht in das eigene Ich. Auch Fahlström spricht in dem Artikel “Nach den Happenings” begeistert vom “Umkehren der Bewußtseinsströme, wenn das Bewußtsein in einer LSD-Erfahrung den Grund berührt”, und von der Verbindung von “Vergnügen und Einsicht”, die die Kunst ermöglichen soll. Man kann vermuten, daß “Dr.Schweitzer’s Last Mission” den Versuch darstellt, ein LSD-Erlebnis ohne Droge möglich zu machen. Für LSD als inspirierende Droge spricht die Fülle an Details, die Überwachheit und die Empfindung, daß es Verbindungen zwischen den einzelnen Szenen geben müsse. Die seltsame Logik, die normalerweise zufällig nebeneinanderstehende Dinge unter Drogeneinfluß zu einem sinnvollen und einleuchtenden Zusammenhang verknüpft, kann für Fahlström als ein Beispiel der Koestlerschen zweiten Welt gesehen worden sein, deren Kausalität nach anderen Gesetzen funktioniert. Hier “bisoziieren” sich A und B mühelos. Die Regeln für die Assoziationsketten sind dabei nicht bestimmbar und nicht erklärbar, weil sie mit den Regeln der konventionellen Sprache ebensowenig gemeinsam haben, wie die möglichen, aber nicht realen Szenen und Bilder mit der Wirklichkeit.

Gerade die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit war es aber, wenn auch meistens vermittelt durch die Massenmedien, die nun mehr und mehr ins Bewußtsein rückte.

Die Begeisterung für Einsicht und Ich-Erfahrung durch Drogen-ähnlich schwärmerische Töne tauchen in Fahlströms Schriften vor- und nachher kaum auf-mündet wenig später in eine zunehmende Politisierung. Der Journalist Fahlström, der zunächst über Kultur geschrieben hatte, schreibt weiterhin für schwedische Tageszeitungen, zunächst über die Hippies und ihre “ekstatische Gesellschaft”, später über Politik, Ausbeutung, über die Rolle der USA und die Drittweltländer. “Wie viele Leute begann ich während der späten sechziger Jahre zu verstehen, daß Wörter wie ‘Imperialismus’, ‘Kapitalismus’, ‘Ausbeutung’, ‘Entfremdung’ nicht einfach nur Ideen oder politische Slogans waren, sondern für erschreckende, absurde und inhumane Bedingungen in der Welt standen. In LBJ’s oder Nixons Amerika zu leben, während des Vietnamkrieges-mit dem Höhepunkt des Terrorbombardements von Weihnachten 72 und Watergate-wurde es unmöglich, da ich nun die stilistischen Mittel hatte, nicht in meinem Werk zu behandeln, was um mich herum vorging. (..) Meine Annäherung war es, die Daten so zu orchestrieren, daß die Leute-im Bestfall-sowohl verstehen wie auch verletzt werden. Werden die Bilder noch als sensuelle und formale Erfahrung wirken?”

Auch wenn Fahlström ganz mit den Strömungen der Zeit geht, gibt es in seiner Kunst eine deutliche Distanz, die letztlich in dem Verlangen begründet ist, die “sensuelle und formale Erfahrung” von Kunst beizubehalten. “Dr.Schweitzer’s Last Mission” ist keine Psychedelic Art, die politischen Arbeiten der kommenden Jahre keine Politkunst.

“Die Oper ist eine Demonstration der ‘Amoralität’ der Kunst, ihrer Bereitschaft, von egal was zu profitieren und es in Kunst zu verwandeln, um die Selbsterfahrung anzuregen oder zu vergrößern: Tortur, begleitet von Belcanto in ‘Tosca’ ( eine Selbsterfahrung, die ihrerseits eingesetzt oder nicht eingesetzt werden kann, um einem politischen Ziel zu dienen. )” Kunst kann nun “Sinn” machen, ohne ihn selbst zu produzieren. Sie kann die Möglichkeit einer anders strukturierten Welt vor Augen stellen und den Blick öffnen für die Regeln der bestehenden. Damit gibt sie einen Anstoß für politisches Handeln, das der Künstler nicht selbst propagieren kann, will er nicht mit der Aufforderung, eine mögliche größere Freiheit zu schaffen, dem Betrachter / Mitspieler die Freiheit nehmen, zu eigenen Schlüssen zu kommen und diesen Schlüssen entsprechend mit einer bewußten Manipulation auch der realen Welt zu beginnen.

“Man muß zum Beispiel akzeptieren können, daß man sich mit dem beschäftigt, was dringlich ist, ohne sich darum in dem sicher meisterhaft erfundenen didaktischen Universum Brechts einzurichten, und daß ein dramatisches Werk erfunden werden kann, das von der zeitgenössischen Welt spricht ,ohne auf irgendeine Weise eine diskursive Konsequenz zu beinhalten.” Auch wenn das verwendete Material zur Stellungsnahme herausfordert, wird es von Fahlström gleichzeitig wie die Comicfragmente oder die Charakterzeichen als Formenrepertoire gebraucht, bei dem keine “Wahrheit” verloren geht, wenn es manipuliert wird. Der Künstler ist weder Lehrer noch Reporter. “Unverfälscht und einfach ein Phänomen zu dokumentieren ist wohlverstanden nichts als eines – das unwichtigste-Mittel, um ein Material zu präsentieren. Es bildet auch keinen Widerspruch-oder eine Neigung zu ‘unverantwortlichen Spielen’ – wenn die Phänomene manipuliert sind, verformt. Der Künstler ist nicht verantwortlich für das Phänomen, sondern nur für sich selbst, insofern er Künstler ist.”

Die Aufgabe des Künstlers wird damit zweideutig: zwischen Belcanto und Tortur, zwischen gelungener künstlerischer Form und der inhaltlichen Präsentation der erschreckenden und inhumanen Bedingungen der Welt klafft für Fahlström eine nicht zu überbrückende Lücke, die mit der Amoralität der Kunst erklärt wird.

“Für mich war es wichtig zu zeigen, daß ‘Heavy Art’ ( nicht Cartoons etc. ) kritisch und sozial engagiert sein kann. Natürlich ist die meiste ‘Heavy Art’ kein Mittel für soziale Veränderungen. Aber Künstler können es sein. Organisieren. Publizieren. Reden halten. Demonstrieren. Streiken. In Gemeinschaft arbeiten.” Daß der Künstler als Person für politische Veränderungen eintreten kann, wie Fahlström es getan hat, ist unbestreitbar. Fahlström selbst blieb aber im Zweifel darüber, welche Berechtigung eine Kunst haben könnte, die so weit amoralisch ist, daß sie von einem kapitalistischen Verteilersystem für handgemachte Kunst profitiert, innerhalb dessen sie sich fast nur diejenigen leisten können, gegen die sie gerichtet sein soll. Fahlström plante deshalb Multiples, von denen jedoch nur wenige ausgeführt wurden. Ansonsten hoffte er auf ein größeres Publikum durch Museen und Publikationen, ohne dabei an den Zeitfaktor zu denken: wenn der Belcanto, also die formale Seite des Kunstwerks, sicher stellen sollte, daß es auch nach dem Veralten der orchestrierten Daten noch als Kunstwerk wirken würde, können die Daten selbst nur zu politischem Handeln anregen, wenn sie noch aktuell sind.

Ab Mitte der sechziger Jahre entstehen mehrere Werkgruppen, die sich anhand der Thematik einer neuen Version der Spielidee zusammenschließen lassen. In den “Life-Spans”, in denen es um das Leben einer bekannten Person wie Marilyn Monroe oder Oswald, dem Mörder Kennedys, geht, und in “Roulette” ( 1966 ) verwendet Fahlström zum Teil überarbeitete Fotos und Filmstills. Hier geht es um das Verhältnis einer öffentlich kodierten Bildsprache und einem privaten Leben, das nur durch sie erfahrbar wird. Die Mechanik des Sexes, den die beweglichen Gliederpuppen ausführen, findet auf dem Hintergrund einer Anhäufung von Bildern aus der ganzen Welt statt, wie sie durch das Zappen durch mehrere Fernsehkanäle zufällig zusammengeführt werden könnten. Einige Bilder sind zusätzlich variabel, darunter eine Anzahl runder Brüste und zwei zigarrenförmige Formen, die eine davon das Foto eines in eine Decke gehüllten Mannes, bei dem nur der Kopf herausschaut. Die Fotos im Hintergrund zeigen Männer als Möchtegernheroen, wartende, verzweifelte oder seltsamen Torturen ausgesetzte Frauen und Bilder aus Asien und Afrika. Die Bildsprache befindet sich dabei in den ihr eigenen Konventionen, mit denen die Geschlechterrollen oder der Blick auf die “Dritte Welt” innerhalb bestimmter Spielregeln festgelegt sind. Die nackten, offen kopulierenden Figuren erzeugen dazu eine “bisoziative” Spannung. Sind die Nacktheit und der Sex das Gegenteil der Konvention, wie es die sexuellen Revolutionäre glauben wollten? Oder sind seine Spielregeln genauso “unnatürlich” und von den öffentlichen Bildern geprägt? Für letzteres spricht, daß die beiden Darsteller einer populären Fernsehserie sein könnten. Auch bei den “Lifespans” wird einiges über die Darstellung einer Person in den Medien und umgekehrt über die Rückwirkung der öffentlichen Bilder und politischen Ereignisse auf die Person bekannt, ohne das man etwas über die Menschen Marilyn oder Oswald erfährt. In der “Life-curve N°.2 ( Oswald )” schreibt eine Hand auf eine Schiefertafel: “My secret identity is”, weiter ist sie nicht gekommen. Es bleibt fraglich, wie weit es solch eine geheime Identität des Einzelnen gibt.

Die “Pools”, “Firing Squad”, die “Houses” und die “Seesaws” verwenden ein Bildvokabular, das in einigen der Arbeiten sogar identische Elemente wiederholt. Dabei werden Fotos, Filmstills, und Schlagzeilen ebenso verwendet wie gezeichnete Elemente im Stil von “Dr.Schweitzer’s Last Mission”. Diese Fragmente der realen Welt ( die nicht dokumentiert wird ), wirbeln durcheinander, verschiedenen mehr oder weniger freien Spielregeln folgend. In den “Pools” schwimmen die Elemente auf der Wasseroberfläche und bilden so immer neue zufällige Zusammenstellungen; “The Little General ( Pinball Machine )” ist darüber hinaus ein seltsamer Flipperautomat, in dem sich nicht die Kugel, sondern die Elemente, die ihr Widerstand bieten sollten, frei beweglich sind. Auf den “Seesaws”, den Schaukeln, sind die Elemente auf einer großen Wippe so angeordnet, daß diese im Gleichgewicht bleibt. “Firing Squad” ( 1968 ) führt neben auf einer Ebene aufgestellten auch aufgespießte Elemente ein, ein Verfahren, das auch noch in Arbeiten von 1973 / 74 angewandt wird, so in “Garden. A World Model”. Gleichzeitig wendet Fahlström in dieser Zeit erstmals ein Farbsystem an, das er für die folgenden Jahre beibehält und den Vorteil hat, gleichzeitig formal schön wie informativ zu sein: Farben stehen in Zukunft für Nationen oder Kontinente und die mit ihnen verbundenen ideologischen Systeme. Blau steht für die USA, hier meist im Zusammenhang mit politischen Persönlichkeiten, Massenmedien, Prüderie und Sex, später vermehrt auf die Rolle der Ausbeuter und ungerufenen Befreier von Drittweltländern bezogen. Der Papst ist so rosa wie Europa. Rot ist natürlich die Sovjetunion, gelb steht für das kommunistische China, grün für die Länder der Dritten Welt, schwarz-rot sind die Anarchisten. Dieses Farbsystem wird oft am Rand der ab 1969 entstandenen Zeichnungen angegeben, die Fahlström nun wieder als eigenständige Arbeiten zeigt, den “Notes” und “Columns”, wobei die “Columns” und auch “World Map” gegenüber den früheren “Notes” einen größeren Textanteil haben, der es erlaubt, eine Fülle von Informationen über “die Dritte Welt: die ökonomische Ausbeutung, die Unterdrückung, die Befreiungsbewegungen” unterzubringen und in Beziehung zu setzen. Der Zeichenstil ist nun nicht mehr an die Comics der Nachkriegszeit, sondern an den Undergroundzeichner Robert Crumb angelehnt, von dem er auch die Formen für die große Installation “Meatball Curtain” bezieht. Unter verändertem Vorzeichen erinnert Fahlströms Erklärung der Zeichnungen bis in die Wortwahl hinein an das erste “Manifest für eine konkrete Poesie”: “Die Aufforderung, ‘Sinn zu machen’, ist zentral in diesem Unternehmen. (..) Fragmente von Informationen [nicht mehr von Sprache an sich] arbeiten als Gedankenanstöße. (..) Kunst in diesem Sinn ist eine historische Hieroglyphe: in der zufälligen Verteilung des Materials ist die Aufforderung zu entziffern impliziert.” Dezentral und verwirrend kleinteilig wie in “Dr.Livingstone, I presume” über die Blätter verteilt, wird es Mühe machen, soweit Sinn hinein zu bringen, daß man das dargestellte System begreift; um dann zu dem Gedanken an eine Freiheit vorzustoßen, die reale Konsequenzen haben könnte.”S.O.M.B.A.” von 1973 überträgt Fahlströms Überlegungen zur Weltsituation und seine utopischen Vorschläge, wie er sie in einigen mehr oder weniger phantastischen utopischen Manifesten bereits ausgearbeitet hatte, auf variable Elemente innerhalb einer freien Form, die er ebenso wie die Formen seiner letzten Bilder aus automatischem Zeichnen gewann. In den letzten Arbeiten, den beiden Chile-Bildern, dem Lateinamerikapuzzle und “Nightmusic I-III” werden die journalistischen Fakten mit Fragmenten aus Dichtungen vermengt und schließlich verdrängt, mit deren Hilfe Fahlström seiner Trauer Ausdruck geben wollte. “Night Music 2 ( Cancer Epidemic Scenario )” ( 1975 ) verwendet Gedichte von Georg Trakl, Federico García Lorca und Sylvia Plath, deren Elemente seltsam losgelöst auf tiefblauem Grund schwimmen, nicht mehr der Farbe der USA, sondern die des elegischen Hintergrunds für den Belcanto der freien Formen. Zwei Jahre vor seinem Tod schrieb Fahlström ( in den “Aufzeichnungen 1974” ):

“Diejenigen, die die musikalische und poetische Dimension meines Werks als ein Ausweichen oder als opportunistisches Überzuckern bitterernster Zustände sehen, möchte ich an eine Szene in Tosca erinnern, wo in den Kulissen eine Folterung stattfindet, während auf der Bühne der Belcanto dahinströmt. Diese scheinbar geschmacklose Nebeneinanderstellung illustriert ein fundamentales Paradox der Kunst aller Zeiten. Es ist das Bemühen um das Verschmelzen von Einsicht und Vergnügen. Das Bestreben, die erschreckende Kürze des Lebens und die furchtbaren Mängel einer Welt zu formulieren, in der wir darum kämpfen, Kenntnisse zu erhalten und Glück zu begründen.”

 

Vortrag für die Gesellschaft für Aktuelle Kunst Bremen, basierend auf der Magisterarbeit “Öyvind Fahlström”, FU Berlin 1995