Das Atelier von Antje Majewski (*1968), liegt wie das vieler Berliner Künstler im nördlichen Stadtteil Wedding. Hier schreitet die Gentrifizierung anders als in Kreuzberg und Neukölln nur zaghaft voran. An der Wand lehnt das Ölgemälde Meteoarises (2009), auf dem die Sängerin Arises , beladen mit einem gewaltigen Meteoriten, die Yogaposition Tisch einnimmt. Das Bild ist Teil der in Arbeit befindlichen Serie The World of Gimel. 2001 haben Majewski und ich das Kollektiv Redesigndeutschland mitbegründet . 2004 haben wir gemeinsam die Ausstellung Atomkrieg in Dresden kuratiert , 2005 das Tanztheaterstück Skarbek in Bytom und Berlin inszeniert und 2009 hat Majewski mit mir an dem Projekt Dubai Düsseldorf teilgenommen, das die künftige Fusion der Städte Dubai und Düsseldorf imaginiert . Für letzteres hat sie ein Kunstwerk der Zukunft entwickelt, das sie aber gar nicht unbedingt realisieren möchte.

 

IN: Letztes Jahr hast du ein Kunstwerk der Zukunft ausgestellt: die Entity.

AM: Ja. Die Entität ist ein fiktives Kunstwerk der Zukunft. Die Idee ist, dass ich in der Zukunft zusammen mit einer Biotechnologiefirma einen Organismus entwickeln werde, der keine Sinnesorgane hat, der sich nicht fortpflanzen oder fortbewegen kann und dessen einzige Aktivität darin besteht, sich selbst zu verdauen. Der kommt sozusagen fertig auf die Welt, verdaut sich dann von innen und ist irgendwann mumifiziert. Dieses Kunstwerk soll ausgestellt werden in einem Pavillon, möglicherweise auch in einer Kunsthalle und alle übrigen Kunstwerke ersetzen. Soweit die Geschichte, die ich entwickelt habe. Es gibt ein Bild, auf dem die Schenkung des Kunstwerks dargestellt wird an einen zukünftigen Museumsdirektor. Das ist ein großes realistisches Gemälde, auf dem es mehrere Figuren gibt. Die reiche Sammlerin, die das in der Zukunft hoffentlich finanzieren wird, übergibt es dem Museumsdirektor und wird umstanden von lauter Assistenten oder Co-Kuratoren oder was auch immer die sind, in prächtigen Gewändern. Ein Gemälde, das auf Piero della Francesca basiert. Noch 100 Jahre weiter in die Zukunft projiziert wurde die Kunsthalle geplündert. Die Entität verstaubt jetzt irgendwo in einer Ecke bei einem Gemüsehändler und hat sich längst mumifiziert und ist zu so einem kleinen trockenen Ball geworden.

Der Entität kommt auch eine kultische Funktion zu.

Na, sagen wir mal so: Die Künstlerin Antje Majewski dieser Narration ist nicht unbedingt identisch mit mir. Es gibt eine Geschichte in Form von einem Text, der bebildert ist, und dort ist von dieser Künstlerin Antje Majewski die Rede, aber das ist nicht unbedingt dieselbe Person wie ich. Das wollte ich nur mal kurz vorausschicken. Das findet alles in der Zukunft statt und wer weiß, ob ich in der Zukunft sowas noch machen werden…

Und wenn jetzt eine Biologin käme und sagen würde: Das ist ja längst technisch möglich.

Ja, dann würde ichs gerne machen. Jetzt im Moment schon. Aber was weiß ich, ob ich in zwei Jahren sowas noch machen will. Insofern rede ich jetzt über Dinge, die ich entwerfe für eine Zukunft, die wahrscheinlich so nie stattfindet. Und zwar in Zusammenhang mit der Ausstellung Dubai Düsseldorf, in der es eine gemeinsame Vision für diese beiden Städte geben sollte. Die Idee war, ein Kunstwerk zu machen, was nicht abbildend ist, nichts repräsentiert – das also dem Abbildungsverbot im Islam Genüge tut –, und das gleichzeitig auch Funktionen erfüllt, die in der westlichen Kunst immer wieder gewünscht wurden, nämlich einen kathartischen Moment oder eine Art Identifikation mit dem Künstler als Schmerzensmann oder als dem, der es auf sich nimmt, Dinge in sich zu verarbeiten, die die Gesellschaft ausgestoßen hat oder nicht verarbeiten will. Im Fall der Entität ist es so, dass das ganz abstrakt bleibt. Die verdaut ja nur sich selber. Man kann da alle möglichen Inhalte rein projizieren in diesen Verdauungsvorgang. Sie wird aber, denke ich jedenfalls, Empathie hervorrufen. Man hat das Gefühl, da ist ein Lebewesen, und dieses arme Lebewesen hat all die schönen Sachen, die wir haben, nicht: Es kann nicht sehen, es kann nicht fühlen, es kann nicht schmecken, es hat keinen Sex, es kann noch nicht mal weglaufen. Es stirbt halt nur. Eine ganz menschliche Reaktion darauf ist, Mitgefühl zu haben. Und über dieses Mitgefühl könnte es sein, dass man auf sich selbst wieder zurückgeworfen wird. Also dass es so eine Kantschen Erhabenheitseffekt gibt – in dem Sinne, dass einem dieses Lebewesen ja auch unglaublich fremd ist.

Man kann ihm auch gar nicht helfen.

Man kann ihm nicht helfen. Ich meine, klar, es ist nicht größer als wir oder so etwas. Mit Zurückgeworfen-werden meine ich einfach nur, dass man sich auf eine andere Art vielleicht darüber freuen könnte, dass man wahrnehmen kann. Dass man fühlen, schmecken, sehen, laufen, tasten kann. Und denken.

Die Entität stellt eine Grenze der Erkenntnis dar.

Ich glaube, die Tendenz von Menschen, sich mit etwas überhaupt irgendwie Lebendigem trotzdem noch emphatisch zu identifizieren, ist sehr, sehr groß. Das kann alles Mögliche sein. Es gibt Leute, die finden Leguane ganz toll. Lebewesen, die vielleicht noch viel fremder sind als so eine Kugel. Also die Entität habe ich mir vorgestellt als eine relativ perfekte Kugel, die von außen ein bisschen zerschrundet aussieht, wie so eine Frucht, in grün-gelb. Und sie stinkt abstoßend. Der Mensch ist in so einem starken Maß ein Sozialwesen, dass er, denke ich, so ein Lebewesen irgendwie versuchen wird zu adoptieren, und dann stellt er fest, da gibt es diese Grenze. Das kann ja nicht antworten. Eine Schildkröte kann immer noch den Kopf heben und dich angeblich angucken. Oder die krabbelt vorwärts mit ihren Krallen. Und dieses Ding ist so in sich abgeschlossen, dass keine Kommunikation mehr möglich ist. Das einzige, was stattfinden kann, ist eine Projektion, die wieder zurückgeworfen wird. Insofern ist es ein Blick in den Spiegel.

Ein bisschen, wie wenn jemand im Koma liegt.

Genau.

Du hast von der kathartischen Funktion gesprochen. Was sind denn für dich Künstler, bei deren Werken du solche Erlebnisse mal hattest?

Ich weiß gar nicht, ob ich selber diese Erlebnisse so stark gehabt habe… Doch, klar. Das ist Beuys. Paul Thek. Bei Bas Jan Ader funktionierts bei mir irgendwie nicht, obwohl ich den sehr mag. Gut, ein Klassiker ist sicher van Gogh.

Hast du das so erlebt mit van Gogh?

Was ich da nachvollziehen kann, ist, dass ich denke, dass ganz viele von seinen Bildern Migräne-Bilder sind. Ich kenne solche Raumverzerrungen von mir selber.

Aber wirkt das dann kathartisch, so ein Bild anzuschauen?

Nein, für mich nicht. Aber ich weiß, dass er in der Rezeption so verhandelt wurde.

Das sind ja alles…

Ich könnte jetzt noch zwei nennen, die mir gerade einfallen: Alina Szapocznikow und Eva Hesse sind auch so Klassiker. Da kommt man, glaube ich, auf relativ viele, relativ schnell. Kafka.

Jetzt nennst du ja keine Maler.

Paul Thek hat gemalt. Van Gogh hat gemalt.

Ja, aber van Gogh ist für dich, hast du gesagt, nicht dieses Erlebnis. Bei Paul Thek sind es auch nicht die Bilder, oder?

Nee, das sind eher die Aktionen.

Und die Entität selbst ist ja auch kein gemaltes Bild.

Es ist ja auch ein Reflexionsvorgang. Ich stelle die Entität nicht wirklich her. Und wenn du jetzt fragst: Würde ich das tun, wenn jemand an mich herantreten würde? Natürlich würde ich es tun, weil ich einfach neugierig wäre. Aber es ist nicht wesentlich, dass es wirklich gemacht wird. Was da zur Verfügung gestellt wird, ist nur eine Erzählung, und das heißt, dass es eine eingebaute Distanz dazu gibt.

Das heißt, diese kathartische Funktion der Kunst ist für deine eigene Arbeit eigentlich nicht primär?

[Pause] Na, also ich selber bin jedenfalls nicht … [Pause] … bis jetzt so eine Figur.

Was heißt: So eine Figur?

Na, Paul Thek oder Beuys sind ja Kunstfiguren. Man ist das nicht einfach so, sondern muss sich dazu auch machen. Man muss sich dazu entscheiden, so eine Figur herzustellen. Über, zum Beispiel, eine ganz bestimmte Art, wie man sich abbilden lässt, oder eine bestimmte Art, wie man sich äußert, oder eine bestimmte Art, wie man sich vielleicht auch erst mal fühlt.

Du meinst, ihre Kunst würde gar nicht funktionieren, wenn man von ihren Personen nicht wüsste?

Ja. Bei Beuys ist das ganz offensichtlich. Der hat ja eine sehr weitgehende Selbststilisierung betrieben.

Und Paul Thek? Wie sieht es da aus?

Ja, eben auch über Fotos. Seine Kunst ist im Wesentlichen gar nicht erhalten. Das ist alles nur Dokumentarmaterial. Da gibt es ein paar Skulpturen, für mich funktionieren die schon so. Aber in der größeren Rezeption geht ganz viel über seine Person.

Das emblematische Werk ist sicherlich seine Pyramide (1971), wo ein ihm selbst nachempfundender Toter drinliegt.

Diese Katharsis-Geschichte funktioniert tatsächlich über Personen. Die kommt ja eigentlich auch aus dem Theater: Eine Person agiert etwas vor, in das man sich hineinversetzen kann, und der Zuschauer verlässt zum Schluss das Theater mit dem Gefühl, gereinigt zu sein von seinen unterdrückten Aggressionen oder was auch immer. Und bei meiner Entität ist natürlich eigentlich das Ziel gar nicht unbedingt Katharsis, sondern eher so ne Art Aktivierung oder Sensibilisierung des Betrachters. Da werden nicht wirklich Dinge verarbeitet. Wenn man jemanden wie Beuys nimmt, dann besteht der kathartische Moment darin, dass er diese ganze Kriegstrauma-Geschichte bearbeitet. So wie man auch sagen kann, Artur Zmijewski beschäftigt sich die ganze Zeit eigentlich mit Katharsis. Im Grunde in so einer Art psychoanalytischem Aufrufens dessen, was so schrecklich ist, dass man es nicht benennen darf, normalerweise.

Auf mich wirkt es wie eine Encounter-Therapie: nackt in die Gaskammer zu gehen und Fangen zu spielen. Oder verschiedene polnische Extremisten aufeinander loszulassen.

Ich habe mit ihm mal darüber gesprochen, und er hat das bestätigt. Also dass er schon denkt, es ist ein Prozess, der zumindest eine Parallele hat zum ganz klassisch Freudschen psychoanalytischen Prozess. Dass du Dinge benennst und zeigst, die sonst nicht sichtbar sind. Und dass dieser Prozess natürlich schmerzhaft ist, man den eigentlich nicht durchleben möchte und dann aber zum Schluss eventuell eine Möglichkeit besteht, daraus zu kommen und in sowas wie die Freiheit zu treten. Aber jetzt reden wir über Zmijewski. [Pause] Und wenn du fragst nach den Objekten von so jemandem wie Beuys oder Thek, dann findet da vielleicht schon noch was anderes statt als diese Katharsis. Katharsis in Bezug auf Thek kann man wahnsinnig gut nachvollziehen, weil der sehr religiös katholisch war. Ein Begriff wie der Schmerzensmann, den kannst du wirklich an ihm festkleben. Er hat ja auch Aktionen gemacht, die mit religiösen Symbolen operieren. Aber wenn man so einzelne Objekte nimmt von Beuys oder von Thek, dann haben die vielleicht schon noch eine ganz andere Funktion. Die haben eher so eine Art Energieüberträger-Funktion.

Darum geht es sehr viel bei Beuys, um diese energetischen Modelle. Warm-kalt.

Ja, im Prinzip so esoterische Magneten herzustellen oder Batterien oder Felder.

Hinter dir steht ein Bild von dir mit einem Stein, Meteoarises. Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesem Stein, der Entität und vielleicht auch den Objekten von Beuys und Thek?

Das ist kein Stein, das ist ein Meteorit. Ich weiß nicht, ob man den Stein nennt. Es ist ein Brocken Metall eigentlich, der vom Himmel fällt und der im Original ungefähr so [umschließt mit ihren Händen einen tennisballgroßen Hohlraum] groß ist. Der gehört zu einer Serie, die ich gerade mache, wo es tatsächlich um so aufgeladene Objekte geht. [Pause] Naja, es ist halt insofern ein bisschen anders, als ich nicht von vornherein davon ausgehe, dass diese Objekte aufgeladen sind. Also ich lade sie hier auf. Ich lade sie mit verschiedenen Bedeutungen auf, aber ich stelle diese Aufladung auch jedes Mal wieder in Frage. Es gibt eine Gemälde-Serie, in der diese Objekte auftauchen: Das ist ein Stein, das ist eine Muschel, das sind verschiedene Objekte, die meistens natürlichen Ursprunges sind oder Natur imitieren. Das sind alles Objekte, die so eine Art magische Möglichkeit in sich tragen. Also Magie im Sinne von Zeitalter der Ähnlichkeiten. Wie Foucault das genannt hat: Analogiezauber. Dinge, die aussehen wie was anderes oder die einen ähnlichen Namen haben wie was anderes, oder eben, weil sie zum Beispiel vom Himmel kommen. Und mit den Objekten bin ich nach Afrika gefahren, vor ein paar Wochen, weil mich diese Idee interessiert, die in eine ganz andere Kultur reinzubringen. Eine, die anders strukturiert denkt, als ich das tue, und die diese Objekte mit anderen Wörtern umschreiben oder in einem anderen Zusammenhang interpretieren kann. Also die diese Objekte für mich wiederum anders aufgeladen zurück bringt.

Dieser Meteorit zum Beispiel, hast du den von dir aus mit etwas Bestimmten in Bezug gebracht? Oder hast du nur das Potenzial gesehen, ihn mit etwas in Bezug zu bringen?

Das Potenzial. Deswegen meine ich ja: Ich selber bin, im Moment jedenfalls, nicht so eine Figur. Kunst funktioniert für mich als eine Kommunikationsmöglichkeit von Inhalten, die man auf eine andere Art nicht übertragen kann. Sie ist ein Vehikel – oder soll das sein. Und ich glaube, was mich an den Objekten interessiert, ist, diese Vehikel-Funktion erst mal zu entleeren und damit aber auch gleichzeitig zu benennen. Also zu sagen: Dieses Bild ist ein Fahrzeug, ein Behälter, so wie dieser Stein ein Behälter sein kann. Und ein Meteorit ist deswegen so gut geeignet, weil der in sehr vielen Kulturen ein Geheimnisträger ist oder eine magische Funktion übernehmen kann. Einfach deswegen, weil es für Menschen immer eine ziemlich verrückte Sache ist, dass da irgendwas vom Himmel fällt. Und dann ist es auch noch Eisen! Aus dem kann was machen. Die, die mit Eisen gearbeitet haben, waren in allen Kulturen Menschen, die an der Schwelle zum Magier standen. Der Schmied ist immer auch der Zauberer oder der vom normalen Dorf ein bisschen Ausgeschlossene, für den ganz bestimmte Regeln gelten. Insofern dachte ich, wenn ich einen Meteoriten nach Afrika bringe oder egal in welches andere Land, finde ich sicher jemanden, der dem eine ganz bestimmte Bedeutung zuschreiben kann.

Der Transfer muss dich dann auch überzeugen?

Nicht unbedingt. Im Fall von dem Stein gab es in Afrika zwei Interpretationen, die ich beide ganz toll fand. Die eine ist: Ich war im Senegal, das ist ein islamisches Land, und mir wurde gesagt, die nehmen dort Lava-Steine, die eben auch eine kosmische Urgewalt symbolisieren, zum Reinigen ihrer Hände vor dem Gebet, wenn sie kein Wasser haben. Und der Stein sieht speziell für Leute aus dem islamischen Kulturkreis ganz klar aus wie der Stein in der Kaaba. Also der wäre auf jeden Fall ein ganz besonderer Stein, einfach weil der schwarz ist und viereckig. Dann gab es aber noch eine zweite Interpretation von einem Künstler, der meinte, dass der Stein für ihn die Frage aufgeworfen hat, ob Gott etwas in diesen Stein eingeschrieben hat. Also ob der Stein ein Zeichen enthält. Und er hat ihn für sich verbunden mit einem Grabstein, den er für einen Freund aufgestellt hat, vor seinem Atelier. Er hatte mit diesem Freund genau über diese Frage gesprochen: Gibt es etwas, was Gott in die Steine einschreibt? Und als der gestorben war, ist er umhergezogen in diesem Dorf und hat gesucht, bis er diesen sehr speziellen Stein gefunden hat. Für ihn ist das jetzt sozusagen der gestorbene Freund. Er hat dann meinen Stein wiederum mit dem Stein in Verbindung gebracht und hat mir aber darüber hinaus noch ein weiteres Objekt geschenkt, das aus Eisen ist und von Chinesen dort in der Erde verbuddelt wurde, als das Stadion in Dakar gebaut wurde. Das ist so ein komischer Metallklotz, der sehr schwer ist und den er golden angemalt hat.

Ändert das, wie du dein eigenes Gemälde siehst?

Hm. Nein. Weil ich habe dem ja keine Bedeutung zugeschrieben. Das hatte von Anfang an keine Bedeutung. Jetzt kannst du natürlich sagen, im Grunde hat auch die Energie, die so eine Beuyssche Wärmequelle ausstrahlt, keine Bedeutung. Er sagt ja einfach nur: Es ist eine positive oder eine kreative Energie.

Und ist der Meteroit selbst dadurch für dich stärker geworden?

Nee. Weil der war für mich vorher schon stark. Aber ich habe halt noch zusätzlich dieses andere Objekt geschenkt bekommen, und ich habe das Gefühl, ich könnte damit jetzt herumgehen und das hier überall auf die Erde aufsetzen – jetzt wirds richtig esoterisch! –, und das könnte dann eventuell abstrahlen. Vielleicht ist es ja auch radioaktiv.

Was bewirkt dieses Abstrahlen?

Nix. [Lacht] Wie gesagt: Ich bin keine Steine-Anhängerin. Nein, das stimmt natürlich nicht, dass es nichts bewirkt. [Pause] Es ist eigentlich ganz eigenartig. Ich komme aus Düsseldorf und habe mich damals, als ich auf der Schule war, mit Beuys beschäftigt. Der lebte da noch und war Professor in Düsseldorf. Und ich hatte mir irgendwie schon vorgestellt, ich würde dann bei dem studieren. Ich merke eigentlich jetzt erst, dass mich das doch sehr beeinflusst hat. Das sind zwei sehr seltsame, unterschiedliche Pole, die wahrscheinlich kein Mensch mit meinen Bildern in Verbindung bringt: nämlich Duchamp auf der einen Seite und Beuys auf der anderen Seite. Duchamp hat auch diese seltsamen kleinen Objekte hergestellt, die wie so Sammelbehälter sind für alle möglichen Bedeutungsfelder, die sich in sich verschieben und verschachteln. In denen es seiner Theorie nach auf jeden Fall auch noch verschiedene Perspektiven gibt, und die dann eine Art Knoten bilden. Das wäre vielleicht die Vorstellung: dass man so Knoten bilden kann, die dann auch wieder abstrahlen können. Du kannst nicht sagen: Die strahlen die und die Bedeutung oder Signifikanz ab. Das ist offen. Aber was man schon tun muss, ist dieses Sammeln und Bündeln.

Dieses Strahlen, was bewirkt das denn wiederum? Ist es wie eine bewusstseinserweiternde Droge? Funktioniert es als ein Verstärker von anderen Wahrnehmungen?

Ob ich das jetzt mit meinen Sachen hinkriege, weiß ich nicht. Aber es könnte beides sein. Es könnte sein, dass es dich selber weiter macht, dass es eben so eine Art Weitung oder Vergrößerung des Innenraums bewirkt. Oder, bei Duchamp würde es heißen, dass es ein Einschussloch darstellt – ich spreche jetzt vom Großen Glas (1915-23) – in unserem drei- oder vierdimensionalen Zeitraumkontinuum. Er hat die Theorie, dass es vielleicht doch noch einen n-dimensionalen Raum gibt, von dem wiederum wir nur Schatten sind. Und dass Kunst sozusagen total ephemere kleine Einschusslöcher herstellt in diesem Erfahrungshorizont, den wir normalerweise leben. Es gibt für uns, mit unseren Sinnesorganen und unseren Körpern, keine Möglichkeit, diese weiteren Dimensionen wahrzunehmen. Lustigerweise ist es aber so, dass man die denken kann. Man kann sie mathematisch berechnen. Und man kann eine innere Vorstellung davon entwickeln, wie das sein könnte. Die kann natürlich nicht stimmen, da wir nicht solche Wesen sind. Seltsam ist nur, dass wir Menschen überhaupt dazu in der Lage sind, diesen Gedanken zu entwickeln.

Warum bist du dann Malerin geworden? Ausgehend von Beuys und Duchamp.

Das frage ich mich auch! [Lacht] Nein, einfach weil… Wenn man annimmt, es gibt diese Bündelungen, dann kann in diesen Bündelungen alles Mögliche enthalten sein, darunter eben auch alle möglichen Bilder. Und mich interessiert schon einerseits dieses ganz abstrakte Gefühl und andererseits interessiert mich, wie es ist, wenn man das alles auffalten würde in ganz viele verschiedene Geschichten. Also all die Dinge, die eben stattfinden können.

Wie du das sagst: Noch bin ich dieser Künstler nicht, klingt es so, als sei die Malerei eine große, lange Rampe, die dich dahin führt – oder vielleicht nicht nur dich.

Es geht ja um Kommunikation. Ich fänds schöner, ich könnte in demjenigen, der das anschaut, Dinge erzeugen. Also den in eine Welt reinschmeißen, in dem ihm dann vielleicht sowas begegnet. In Picknick am Wegesrand (1971), dem Roman von den Strugatzki-Brüdern, geht ein Mann immer wieder in ein Gebiet, das von Aliens verseucht wurde. Die sind da gelandet. Und in diesem Gebiet befinden sich lauter seltsame Gegenstände. Diese Gegenstände sind den Menschen komplett fremd, die gehorchen zum Teil sogar anderen Naturgesetzen. Und die Menschen, auf ihre menschliche Art, gehen da aber rein – die sind wie Wühlmäuse oder Abfallverwerter – und stellen fest: Okay, dieses komische Schnurbselding, das kann man verwenden, um das damit zu machen, hier in unserem menschlichen Rahmen. Und bis jetzt jedenfalls kann ich mich nicht in die Position versetzen, dass ich sozusagen der Alien bin. Ich möchte lieber, dass der Betrachter selber derjenige wird, der diesen Schnurbsel dahin gelegt hat.

Das meinte ich: eine Rampe nicht nur für dich, sondern auch für den Betrachter.

Bei Duchamp spielt das schon auch immer mit. Ganz viele von seinen Arbeiten sind im Grunde solche Abschussrampen. Das sind alles so perspektivische Anordnungen, durch die du eventuell irgendwo hinkommen könntest. Oder durch die du mehr darüber erfährst, wie du selber wahrnimmst. Das meine ich halt: Diesseits und jenseits des Großen Glases befindet sich ja Welt. Man schaut drauf und man schaut auch durch. Mich interessiert, die Welt oder mögliche Welten auf diesen beiden Seiten mit darzustellen. Auch die Tatsache, dass man einen Betrachter hat. Ich habe immer relativ viele Menschen drin gehabt in meinen Bildern, die sich begegnen oder aufeinander reagieren. Ich weiß aber nicht genau, wohin das führen wird. Es kann sein, dass es sich auf der einen Seite mehr konzentriert und einfaltet und abstrakter wird. Und auf der anderen Seite habe ich mehr und mehr Lust, die Narration noch mehr auszubauen, die Bilder alle noch viel komplexer zu machen und untereinander zu verbinden und zu verknubbeln und lauter Scharniere einzubauen und immer noch mehr Parallelerzählungen, die alle aufeinander verweisen. Und die aber in einer gewissen Weise trotzdem noch diese Leerstelle umkreisen, die der Betrachter dann selber füllen muss. [Pause] Vielleicht male ich auch diese Gegenstände aus Picknick am Wegesrand. Das habe ich jetzt schon seit ein paar Jahren vor. Aber es kann sein, dass es noch fünf Jahre dauert, bis ich das kann. Es würde mich aber immer nur interessieren, die zu malen. Ich möchte nicht selber Objekte herstellen. Ich habe das Gefühl, dass ein Bild insofern mehr Freiheit bietet, als dass da schon klar ist: Es ist eine Illusion. Ein theatraler Illusionsraum. Du trittst ein und füllst den mit deinem eigenen. Ein Objekt wäre für mich viel zu buchstäblich. Das finde ich an diesen Beuysschen Objekten irgendwo auch kitschig, dass du da so ein Ding hast, und das sagt von sich: Ich bin ein Energietransmitter. Dann sieht es auch aus wie ein Energietransmitter, und ich darfs noch nicht mal anfassen! Das ist das Letzte. [Pause] Wenn man ein reales Objekt in einer dreidimensionalen Welt schafft, fänd ich es besser, wenn man das dann auch anfassen könnte. Oder sich drauf stellen. Und solange das nicht möglich ist in der Art, wie unsere Kunstwelt organisiert ist , finde ich es viel sinnvoller, Dinge zu machen, die sowieso nur in einem Ideenraum stattfinden.

Könntest du nicht einfach sagen: Diese Sachen sind dafür gedacht, dass man sie anfasst, verändert?

Das kann man sagen, aber Montag zum Beispiel war ich bei einer Diskussion mit Simon Wachsmuth. Der hatte ein Bild an der Wand mit Silberkugeln drauf und meinte, da spiegelt sich der Betrachter drin und wird Teil des Bildes, und er darf diese Kugeln aber auch gleichzeitig versetzen, auf so einer Magnetfläche. Und dann habe ich natürlich gleich gefragt: Ja, darf ich mal anfassen? [Lacht] Und er meinte: Naja, ausnahmsweise. – Das Ding hängt normalerweise natürlich da, und du darfst es eben nicht anfassen. Und dann meinte ich: Ja, aber wenn der Betrachter das normalerweise nicht anfassen und verändern darf, woher soll der dann wissen, dass das überhaupt variabel ist? Und dann meinte er: Ja, das sieht man doch. Und ich fand gar nicht, dass man das sieht. Dann habe ich halt so eine Kugel genommen und die verschoben und die hat natürlich gleich voll nen Ratscher über eine von diesen Aufklebeflächen gemacht. Zum Glück war die ganze Tafel sowieso ein Versicherungsfall, so dass ich nicht mehrere Tausend Euro bezahlen musste. Aber das ist der Normalfall. Du hast was von Öyvind Fahlström, was interaktiv gedacht war, oder alle Überbleibsel von Happenings oder irgendwelchen interaktiven Aktionen: In dem Moment, wo die ins Museum eintreten, findet ein Prozess statt, der dazu führt, dass die mumifizieren. Ein gutes Beispiel ist das Studio von Edward Krasinski in Warschau, der vor ein paar Jahren gestorben ist und der seine Wohnung in ein Gesamtkunstwerk verwandelt hat. Da gibt es ganz viele kleine Gegenstände, ganz viele installative Elemente, die die Wohnung in so ein komisches Labyrinth verwandeln. Noch vor fünf Jahren haben die gesagt, das Studio soll offen bleiben, da sollen Dinge stattfinden, da sollen junge Künstler reingehen können, die sollen da selber Kunst machen können in diesen Arbeiten von Krasinski oder mit denen agieren können. Vor zwei Tagen habe ich angerufen, und es heißt: Nein, die Familie will jetzt überhaupt nicht mehr, dass da drin irgendwas passiert. Du darfst Fotos machen, es kann besichtigt werden, aber es ist ein Museum. Und dann wurde mir später noch gesagt: Naja, weißt du, Krasinski, das ist jetzt nicht mehr einfach nur ein Künstler, sondern das ist sozusagen ein Nationalschatz. Und der wird demnächst vielleicht im MoMA ausgestellt.

Dabei gibt es so viel institutionskritische Kunst, so viel Kritik an einer Sakralisierung der Kunst.

Ja.

Vielleicht musst du selber so einen Ort schaffen, wo man hingehen kann und Dinge anfassen und in Bezug bringen kann zu anderen Dingen.

Ja, das ist eine Überlegung. Hier im Wedding ein Zentrum für unverkäufliche Kunst [lacht] zu gründen. Ich fänds super. Andererseits weiß ich ganz genau, wie viel Arbeit das bedeutet und dass ich die dann doch lieber in meine eigene Kunst stecke. Aber das Gedankenspiel gibt es. Ich möchte einfach, dass Kunst auch eine unmittelbare Übertragung von Erfahrungen oder Leben bedeuten kann. Mich interessiert das einfach nicht, so ein Haufen toter Gegenstände, die ich dann irgendwo nach Wertkriterien einordnen kann. Dass der Gegenstand im Grunde nur spezifiziert, wie gut du dich auskennst. Also dass du innerhalb von einem Diskurs an einer ganz bestimmten Position angekommen bist und alle übrigen Positionen davor schon verstanden hast. Und der Betrachter kann in dem Moment, wo er das versteht, sich selbst mehr Wert zusprechen, da er in der Lage ist, diesen Diskurs mitzutragen. Ich wünschte mir, ich könnte die Bilder, so wie sie sind, direkt in das Gehirn von anderen Leuten beamen. Ohne diese ganzen Umwege über Waren, die hergestellt und verschoben werden müssen, die gelagert werden müssen. Ohne Räume voll mit anderen toten Objekten.

Da bist du in der priviligierten Position gegenüber den Malern, die schon tot sind, dass du das vielleicht noch zu Lebzeiten erleben kannst.

Also ganz so einfach ist es nicht. [Lacht] Es geht ja nicht nur darum, dass du die visuelle Kortex stimulierst und dann hast du ein paar Lichtblitze. Um das wirklich übertragen zu können, was ich da beschreibe, müsstest du im Grunde den Gesamtinhalt des Gehirns übertragen können. [Lacht] Und davon sind wir schon echt weit entfernt.

Was willst du senden: Die Sachen, die in deinem Kopf stattfinden, oder die gemalten Bilder?

Ich fänd beides toll. Die gemalten Bilder in ihrer Materialität. Aber ich fänd auch toll, ich könnte in meinem Kopf wirklich so eine Art Bild konzentrieren, wie ich sie auch mache, bevor ich ein Bild male. Es vergehen manchmal Jahre, in denen ich dieses Bild im Kopf ausarbeite – nicht in den Einzelheiten, sondern in dem Gefühl von diesem Bild. Du weißt nur, das ist noch nicht so ganz richtig. Dann verschiebt sich nochmal was und auf einmal ist dieses Gefühl sehr klar und beinhaltet aber nicht unbedingt, ob die Frau ein rosa Hemd anhat oder ein weißes. Und natürlich wäre es toll, man könnte dieses Gefühl direkt, ohne Umweg über eine Materialiät, rüberbeamen. Aber es ist schon komplexer als einfach nur ein Gedanke. Es ist so eine Sache, die man von allen Seiten angucken kann, aber eben kein Film. Ich kann das nicht ersetzen dadurch, dass ich Kinofilme mache. Und es ist auch kein Buch. Es sind Dinge, die in der Zeit stillstehen und die kondensiert sind.

Sehr viel Kunst heute kann man, selbst wenn man in derselben Zeit lebt, ohne Zusatzinformationen gar nicht verstehen. Die auf einem Zettel stehen, der gereicht wird. Die vielleicht auch nur gerüchtehalber in der Kunstwelt umherschwirren. Ohne die wird man gar nicht die Bedeutung erfassen, die ein Kunstwerk für viele Leute plötzlich interessant macht. Die Übertragbarkeit ist extrem anfällig. Man könnte sagen, es ist eigentlich wie bei den ganzen Datenträgern, die wir heute haben. Wo man weiß: Naja, 10 Jahre wird die DVD schon noch irgendwie halten, aber dann…

Ja gut, aber das ist natürlich ein Grundproblem von Kunstgeschichte. Dass du dich beschäftigst mit Bildern der niederländischen Stillleben-Malerei, und man versucht sich das mühsam zu erarbeiten, genau welcher Gegenstand mit welchen Allegorien verbunden ist oder welche literarischen Quellen das hatte. Da gab es auch früher extrem elaborierte Bedeutungssysteme, die wir heute nicht mehr so verstehen. Und trotzdem gehe ich meinetwegen ins ethnografische Museum und schaue mir indische Miniaturmalerei an oder Maja-Skulpturen: Sicher werde ich die nicht so wahrnehmen, wie die Leute das geschaffen haben, und trotzdem überträgt sich was. Da bin ich jetzt vielleicht sehr naiv, aber ich finde nicht, dass es so wichtig ist, dass genau das sich überträgt, was der, der es gemacht hat, auch damit bezweckt hat. Was vielleicht wichtiger ist, ist so eine Art von Intensität oder von Erfahrungshorizont. Und das hat wieder ganz stark mit dieser Empathie-Fähigkeit des Menschen zu tun. Ich finde es nicht relevant, ob ich tatsächlich bei einer Maja-Skulptur genau weiß, welches Element was bedeutet hat, welcher Gott ganz genau da angesprochen war. Selbst wenn ich das weiß, werde ich trotzdem niemals nachvollziehen können, was da los war. Aber deswegen ist es trotzdem nicht so, dass ich die einfach nur noch den Wissenschaftlern überlasse.

Wäre es dir wichtig, die auch anfassen zu können?

Kann man ja. Wenn du zum Beispiel nach Mexiko fährst und du krabbelst auf so einem Tempel rum, dann ist das schon was anderes, als wenn du im Museum vor einer Vitrine stehst.

Das geht in zwei Richtungen. Die eine ist: Du wünscht dir eine noch unmittelbarere Informationsübertragung, die den Informationsträger nicht mehr braucht. Und die andere ist im Gegenteil, dass du dir den direkteren Umgang mit Materialien wünschst. Aber das lässt sich ja eigentlich beides verfolgen. Vielleicht ist das genau die Zukunft.

Ich fänd ja am allerbesten, man würde – bitteschön noch zu meinen Lebzeiten – eine Methode entwickeln, mein Gehirn in ein weniger anfälliges Medium zu überführen. [Lacht] Aber, denke ich immer, wenn das wirklich passieren sollte, dann wäre das eigentlich ein Beweis dafür, dass das hier sowieso alles ein Konstrukt ist. Weil, der Zufall wäre einfach zu groß, dass das während meiner Lebzeit entwickelt wird.

Es gibt diese Simulationsstochastik. Wenn wir – das ist das Nick-Bostrom-Argument – eines Tages in der Lage sind, das Gehirn in seiner gesamten Komplexität in einen digitalen Datenträger zu übertragen, dann können wir das wahrscheinlich schon in Windeseile nicht nur einmal, sondern gleich milliarden- und trillionenfach tun. Also wenn wir uns gerade an diesem Punkt befinden, wo wir in der Lage sein könnten, wie wahrscheinlich ist es dann, verdammt noch mal, dass wir nicht längst schon so eine Simulation sind.

Eben. [Lacht] Aber die Chancen stehen nicht so gut, dass es noch zu meinen Lebzeiten passiert. Also wenn dann, glaube ich, dauert es eher noch zwei Generationen oder so.

Das ändert aber nichts an der Wahrscheinlichkeit. Sobald man nur absehen kann, dass es möglich ist …

Du könntest diesen neuen Denkmaschinen auch Körper beigeben, die komplett anders aussehen als unsere. Die viel schöner oder viel funktioneller sind und vor allem viel länger leben und keine Krankheiten kriegen und so weiter. Nur wenn es weiter Menschen gäbe, könnte der Zweig der Kunst wieder wichtig werden, der sich tatsächlich mit materiellen Dingen beschäftigt, mit Tastsinn oder dem Übermitteln von sehr individuellen Erfahrungen. Es könnte dazu führen, dass Dinge, die von Hand gemacht sind, wieder sehr viel wichtiger werden. Dass man sich halt irgendwann ausklinkt. Ich denke, dass Kunst in Zukunft immer weiter aufgehen kann in andere Gesellschaftsbereiche, was ja jetzt auch schon passiert. Heute Morgen haben wir zum Beispiel an der Akademie in Weißensee einen Vortrag gehabt von Ute Meta Bauer, die Rektor werden will bei uns. Und die hat erzählt, wie am MIT Produktionsdesign, Informationstechnologien und Künstler zusammenarbeiten. Und raus kommen lauter gesellschaftsrelevante und gleichzeitig technologiefreudige Kunstwerke wie bepflanzbare Caravans oder besonders hübsch geformte Elektroautos, die man stapeln kann. Also wo der Künstler im Grunde ein Zuarbeiter der Industrie wird, aber im guten Sinne. So wie sich große Firmen jetzt auch kleine Minilabors leisten, die nix tun als Dinge zu entwerfen, für die man gerade gar keinen unmittelbaren Nutzen sieht. Weil man weiß, in zehn Jahren eventuell kommt genau aus diesen verrückten Ideen das Produkt, was dann der totale Erfolg wird. Das ist sicher ein ganzer Bereich, dass Kunst so eine Art Innovationsträger ist, weil da halt Leute sind, die irgendwie quer denken. Ich sehe im Grunde auch gesellschaftskritische Kunst genau in demselben Bereich. Die arbeitet nicht der kapitalistischen Maschine zu, die arbeitet halt der politischen Maschine zu. Über Spaltung, Korrektur, Spaltung, Korrektur bewegt sich dieses ganze Vehikel holprig, aber doch irgendwie vorwärts oder seitwärts. Wie so eine Amöbe stülpt sich das System über diesen Fremdkörper, der da entstanden ist, verleibt den ein, umschließt den, ummantelt den, formt ihn in ein kleines elegantes Körnchen, und dann geht es weiter. Was ich aber meine mit dieser individuellen Erfahrung, dass du in der altjapanischen Kultur beispielsweise diese vielen verschiedenen Varianten hattest, wie Kirschblüten dargestellt wurden oder wahrgenommen wurden, und das Kirschblütenfest dazu dient, nicht nur den Frühlingsanfang zu markieren, sondern dass die Leute wirklich da hingehen, um eine ästhetische Erfahrung zu machen. Und dass du dir diese im Grunde zweckfreie ästhetischer Erfahrung noch viel mehr leisten kannst, wenn du sowieso arbeitslos bist. Dass man viel mehr Zeit darauf verwenden kann, Dinge herzustellen, die einem einfach Freude machen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Menschheit über bestimmt 20.000 Jahre ihre Waffen, Kleider, Kissen, Möbel, Häuser verziert hat, mit einem unglaublichen Zeitaufwand, und dass dieser Impuls des sich Aneignens von den Dingen, die einen umgeben, einfach verlorengeht. Du markierst damit ja auch: Das ist mein persönlicher Rock. Den habe ich bestickt, nur ich habe den so bestickt. Da gibt es Mustervorlagen, aber jeder stellt seine eigene Variante her. Ich könnte mir vorstellen, dass das wieder kommt, wenn die Leute noch mehr, viel mehr freie Zeit haben.

 

Interview für:  Ingo Niermann, Erik Niedling: The Future of Art. A Manual. Sternberg Press, Berlin 2011