Wu

Mr. Baynes, ein Schwede auf Geschäftsreise, fliegt mit der Lufthansa nach San Francisco, wo er einem wichtigen japanischen Handelspartner schwedische Plastik- und Kunstharzerzeugnisse vorführen will. Dabei gerät er mit einem neben ihm sitzenden Künstler namens Lotze ins Gespräch, der in San Francisco eine Ausstellung vorbereitet. Mr. Baynes entschuldigt sich dafür, Lotzes Arbeiten nicht zu kennen – er selbst möge eigentlich nur die alten Kubisten und Abstrakten. Aber das, erwidert Lotze, sei doch die Zeit der spirituellen Dekadenz gewesen, der jüdischen Plutokratie. Mr. Baynes nickt. Doch kurz vor der Landung teilt er dem Künstler ganz unvermittelt mit, daß er ein Jude sei und sich unerkannt in den höchsten Nazizirkeln bewege. Mr. Baynes ist kein Schwede, sondern ein Deutscher, der für die deutsche Abwehr arbeitet. Das Flugzeug ist raketengetrieben. Nach dem gewonnenen zweiten Weltkrieg haben sich Deutschland und Japan die Welt geteilt, San Francisco liegt im japanischen Teil der ehemaligen USA. Hitlers Nachfolger, der Reichskanzler Martin Bormann, plant, nun auch Japan durch einen unangekündigten enormen Nuklearschlag in der ‚Operation Dandelion’ zu unterwerfen. Mr. Baynes’ Aufgabe ist es, den alten japanischen General Tedeki davon zu unterrichten und die Japaner dazu zu bringen, mit der SS, die aus machtpolitischen Gründen gegen die Operation ist, Kontakt aufzunehmen. General Tedeki begreift, daß er mit dem schlimmsten Teil der deutschen Gesellschaft zusammenarbeiten muß, will er Japan retten.

In Philip K. Dicks The Man in the High Castle[1] taucht noch ein anderes Buch auf, The Grasshopper lies heavy, ein Buch, das alle lesen, obwohl es verboten ist. Es wurde von einem Schriftsteller geschrieben, der dafür das I Ging befragt hat – und das I Ging lügt nicht. In diesem Buch wird eine alternative Realität beschrieben, in der die Alliierten den Krieg gewonnen haben.

Für einen kurzen Moment gerät der japanische Geschäftsmann, dessen Büro

als Tarnadresse für das konspirative Treffen dient, in diese andere Realität, in der Japanern nicht automatisch Platz gemacht wird, es keine Rikschataxis gibt und die sich zu seinem Glück nicht als dauerhaft erweist. Er hatte zu lange auf ein seltsam unfertiges Silberschmuckstück geschaut – das erste neue Kunstwerk des besiegten Amerika, in dem längst nur noch Vorkriegsamerikana gehandelt werden. Verkauft wurde es ihm von einem Antiquitätenhändler, der in diesem Silberwirbelchen Wu[2] entdeckt hatte.

 

Es ist kein Zufall, daß Philip K. Dick, dessen Vertrauen in eine uns allen gemeinsame Realität im Laufe seines Lebens immer mehr schwand, das glaubwürdige Szenario einer Welt entwarf, in der die Nazis über Atombomben verfügen und den Krieg gewonnen haben. Man kann sich kaum eine Weggabelung der Geschichte vorstellen, an der ein Abzweig bedrohlicher wäre. Auch deswegen gibt es eine nicht beendbare Debatte darüber, warum die deutschen Physiker keine Atombombe bauten.

 

Die guten Absichten

Die Geschichte der Atombombe scheint einer der seltenen Fälle zu sein, in denen einzelne Personen so folgenschwere Entscheidungen treffen, daß sie das Leben von Millionen verändern. So interessierte man sich zunächst für Werner Heisenberg, für J. Robert Oppenheimer oder Claude Eatherly, den Piloten des Flugzeugs, aus dem die Bombe auf Hiroshima fiel. Nicht nur historische Untersuchungen, sondern auch Romane und Theaterstücke beschäftigen sich mit ihnen und ihrem Gewissen.[3]

Zuletzt löste Kopenhagen, das Theaterstück von Michael Frayn[4], eine Debatte aus, die die Erben Niels Bohrs dazu brachte, im Februar 2002 vor Ablauf der Sperrfrist seine Briefentwürfe an Heisenberg aus den Jahren 1957 bis 1962 im Internet zu veröffentlichen.[5] Eine Flut von Artikeln und mehrere Symposien folgten. Die Moral Heisenbergs, der für die Nazis an einer Atombombe arbeitete, wurde in der öffentlichen Debatte weniger an Taten als an Absichten gemessen. Es interessierte weniger, ob Heisenberg tatsächlich die Arbeit an der deutschen Atombombe verzögerte, als seine Gedanken vor dem Besuch bei seinem Freund und Lehrer Niels Bohr in Kopenhagen im September 1941.

Heisenbergs Schüler Carl Friedrich von Weizsäcker hatte für Heisenberg einen Vortrag am Deutschen Wissenschaftlichen Institut (DWI) organisiert, dem Bohr und die Mitarbeiter seines Instituts demonstrativ fernblieben. Auf einem privaten Spaziergang führten Niels Bohr und Werner Heisenberg dann ein Gespräch, daß nicht mehr rekonstruierbar ist, aber je nach Deutung belegen soll, daß die deutschen Physiker den Bau der Atombombe hintertrieben – oder aber opportunistische Mitläufer waren. [6]

Heisenberg sagte später, er habe damals die Möglichkeit gesehen, daß alle Wissenschaftler ihren Regierungen gegenüber den Aufwand einer Atombombe übertreiben und so ihren Bau verhindern könnten. Das habe er mit Bohr besprechen wollen. Aber Bohr, der als „Halbjude“ sein Institut im besetzten Dänemark nur seines Rufs als Wissenschaftler wegen weiter leiten konnte, hatte zu diesem Zeitpunkt keinerlei Kontakt zu den amerikanischen Wissenschaftlern, die abgeschirmt von der Außenwelt mit dem Bau der Atombombe begonnen hatten. Zudem gab es nicht nur ein deutsches Atomprojekt, sondern konkurrierende Forschergruppen. Heisenberg hätte niemals mit allen beteiligten deutschen Wissenschaftlern eine Verschwörung bewerkstelligen können.

Heisenberg kam nicht dazu, diesen Vorschlag oder auch nur seine Zweifel anzusprechen, da Bohr das Gespräch schockiert abbrach, sobald er verstanden hatte, daß in Deustchland an der kriegerischen Vferwendung der Atomenergie geforscht wurde. Daß Heisenberg ihn anfangs gebeten hatte, sich zu seinem eigenen Schutz an die deutsche Botschaft zu wenden, verstand er als Aufforderung zur Kollaboration. In den Entwürfen für einen nie abgesendeten Brief an Heisenberg müht sich Bohr nach dem Krieg um eine Formulierung für den Verdacht, dieser sei in offiziellem Auftrag gekommen. „I have, however, wondered, from which official agency permission was given to talk to me about a question which was surrounded by such great secrecy and held such great dangers.“[7] Wenn auch wenig gesichert ist, was dieses Gespräch angeht, so ist es doch eher unwahrscheinlich, daß Heisenberg beauftragt worden war, Bohrs Kenntnisse über den Stand des amerikanischen Atomprojekts auszuspionieren, indem er das deutsche verriet.[8] Thomas Powers hebt deshalb in Heisenbergs Krieg hervor, daß der Geheimnisverrat an sich schon Sabotage war.[9] Tatsächlich wurde Bohr unmittelbar nach seiner Flucht aus Dänemark im Oktober 1943 vom britischen Geheimdienst und bei den Amerikanern von General Groves persönlich befragt. Heisenberg war der wichtigste deutsche Physiker, und Bohr der einzige Zeuge der Alliierten, der ihn während des Krieges gesprochen hatte. Er bestätigte sie in ihrer Furcht vor dem deutschen Atomprojekt, von dem nichts außer der Tatsache seiner Existenz bekannt war. Die amerikanische Geheimhaltung funktionierte hingegen sogar so gut, daß die Deutschen bis Kriegsende vom Manhattan Project, dem amerikanischen Atombombenprojekt, nichts ahnten. Vielleicht wollte Heisenberg bei seinem Besuch doch, wie es Bohrs erster Eindruck gewesen war, herausfinden, ob Bohr irgend etwas über die amerikanischen Pläne wußte. Er befürchtete, „daß eines Tages eine Atombombe auf Deutschland abgeworfen würde. Diese Vorstellung quälte ihn ständig.“[10] Diese Besorgnis hatte er dann jedoch als Privatperson – merkwürdigerweise war es gerade die völlige Unterschätzung der Amerikaner durch die Deutschen, Wissenschaftler wie Entscheidungsträger, die verhinderte, daß der Entwicklung einer Atombombe Priorität gegeben wurde. Heisenberg scheint mit seiner sehr vorsichtigen und gleichzeitig unfaßbar blauäugigen Kontaktaufnahme zu Bohr deshalb einfach alle Möglichkeiten bedenken zu wollen.

Der Plan vom Pakt der Wissenschaftler dagegen paßt, ganz gleich, ob er damals existierte oder erst später in das Geschehen hineingedeutet wurde[11], viel besser zu Carl Friedrich von Weizsäcker, mit dem Heisenberg das Treffen besprochen hatte. Der “grenzenlos ehrgeizige“[12] Schüler und Freund Heisenbergs hatte diesen Ende der dreißiger Jahre zur Mitarbeit am Atombombenprojekt überredet, weil er 1939 eine aberwitzige Idee gehabt hatte, die er wohl um 1941 aufgab. „Es war der träumerische Wunsch, wenn ich einer der wenigen Menschen bin, die verstehen, wie man eine Bombe macht, dann werden die obersten Autoritäten mit mir reden müssen, einschließlich Adolf Hitlers. Ob ich nicht den Hitler rumkriege, eine vernünftige Politik zu machen. (…) Ich rede mit Hitler, ich rede spontan mit ihm und will mal sehen, was da kommt.“[13]

Daß die exilierten, teils jüdischen Wissenschaftler in Amerika ihrerseits eine panische Angst vor der deutschen Atombombe hatten, wird sofort verständlich, wenn man in den 1992 freigegebenen „Farm-Hall-Protokollen“[14] liest. Nach der Kapitulation Deutschlands wurden die zehn wichtigsten deutschen Physiker in einem Haus des britischen Geheimdienstes namens Farm Hall in der Nähe von Cambridge interniert, wo sie ohne ihr Wissen abgehört wurden. Unmittelbar nach der Nachricht vom Abwurf der amerikanischen Atombomben schlug Carl Friedrich von Weizsäcker zum ersten Mal den anderen Physikern eine Deutung ihres Scheiterns vor, die sie moralisch besser dastehen läßt als die Amerikaner.

Heisenberg: „Die Beziehungen zwischen Wissenschaftler und Staat waren derart, daß wir einerseits nicht hundertprozentig dazu entschlossen waren und andererseits der Staat uns so wenig Vertrauen entgegenbrachte. Selbst wenn wir gewollt hätten, wäre es nicht leicht gewesen, die Sache durchzukriegen.“

Diebner: „Weil die offiziellen Leute nur an Sofortergebnissen interessiert waren. Sie wollten nicht auf einer langfristigen Basis arbeiten, wie es Amerika gemacht hat.“ (…)

Weizsäcker: „Wenn wir die Sache rechtzeitig genug angefangen hätten, hätten wir es irgendwie schaffen können. (…)“

Wirtz: „Die Folge wäre gewesen, daß wir London ausgelöscht, aber noch immer nicht die Welt erobert hätten, und dann hätten sie die Dinger auf uns abgeworfen.“

Weizsäcker: „Ich meine, wir sollten uns jetzt nicht in Rechtfertigungen ergehen, warum es uns nicht gelungen ist, vielmehr müssen wir zugeben, daß wir gar nicht wollten, daß sie gelingt. (…)“[15]

Das blieb nicht unwidersprochen. Wenig später bemerkt Erich Bagge zu Kurt Diebner: „Ich meine, es ist absurd von Weizsäcker, zu sagen, wir hätten gar nicht gewollt, daß die Sache gelingt. Das mag für ihn zutreffen, aber nicht für uns alle.“[16]

Auch wenn man annimmt, daß Heisenberg, von Weizsäcker, sicher auch Otto Hahn und Max von Laue (die wenig mit dem Projekt zu tun hatten), wenigstens in den letzten Kriegsjahren „nicht hundertprozentig dazu entschlossen waren“, trug offensichtlich noch etwas anderes dazu bei, auch die Anstrengungen der übrigen zielstrebigen, zum Teil auch nationalsozialistischen Forscher scheitern zu lassen:

 

Die Umstände

Während der ersten Kriegsjahre hatten die Alliierten allen Grund zur Sorge. Ein Aufsatz über eine Uranmaschine zur Erzeugung von Energie wurde von einem Mitarbeiter Hahns und Meitners, die die Kernspaltung entdeckt hatten, schon im Juni 1939 veröffentlicht[17]. Im selben Jahr bildete das Heereswaffenamt den Uranverein, der nach militärischen Anwendungen für die Kernenergie forschte. Deutsche Truppen eroberten die Uranbergwerke von Joachimsthal in der Tschechoslowakei, die einzigen in Europa, und wenig später die einzige Schwerwasseranlage der Welt, die Norsk Hydro bei Rjukan in Norwegen. Dann fielen ihnen auch noch die belgischen Uranvorräte der Union Minière in die Hände. Bis 1942 war der Forschungsstand in Deutschland und Amerika ungefähr gleichauf, obwohl man durch Geheimhaltung und Nachrichtensperre nichts mehr voneinander wußte. Aber dann traten die deutschen Forscher auf der Stelle, während die Amerikaner riesige Fortschritte machten. Das hatte mehrere Gründe.

Natururan besteht fast ausschließlich aus nicht spaltbarem U 238 und enthält nur in geringen Mengen das seltene Isotop U 235, das durch Neutronenbeschuß spaltbar, aber schwer zu isolieren ist. Zur Isotopentrennung kann man ein Zyklotron benutzen, aber in Deutschland gab es keines, während in Amerika schon vor Kriegsbeginn neun fertig und siebenundzwanzig im Bau waren. Die Verbindung zwischen Wissenschaft und Industrie war hier viel selbstverständlicher. Die Deutschen hatten zwar das Pariser Zyklotron von Joliot-Curie erobert, aber Schwierigkeiten mit der Anlage. Andere Versuche zur Isotopentrennung scheiterten.

Die Deutschen hatten schon früh begriffen, daß man auch Plutonium als Sprengstoff verwenden konnte, und die Forschergruppe hatte das auch dem Heereswaffenamt mitgeteilt.[18] Plutonium ist ein in der Natur nicht vorkommendes Element, daß aber in Atomreaktoren erbrütet werden kann. Als Zerfallsprodukt des die Neutronen absorbierenden U238 entsteht das Element 93, welches wiederum in das Element 94 (von den Amerikanern Plutonium genannt) zerfällt. Für den Reaktor benötigt man einen Moderator, sozusagen eine Neutronenbremse. Dieser Moderator besteht am besten aus Graphit oder schwerem Wasser. Graphit wurde vom Heereswaffenamt abgelehnt, weil es im erforderlichen Reinheitsgrad sehr teuer in der Produktion gewesen wäre und man auf den Ausbau der Schwerwasseranlage Norsk Hydro zählte[19]. Durch die abenteuerliche Sabotage der Norsk Hydro durch die Briten und den norwegischen Untergrund und schließlich die Zerstörung des Werks durch ein amerikanisches Bombergeschwader(1943)[20] fehlten noch beim letzten Großversuch für einen kritischen Reaktor mehrere hundert Liter schweres Wasser. Man versuchte zwar, deutsche Schwerwasseranlagen zu bauen, hatte dafür aber nicht genug Mittel. Hinzu kam die Bombardierung der halbfertigen Anlagen durch die Alliierten. Auch das Uran blieb immer knapp, und die Forschergruppen konkurrierten um wenige Kilo, während die Amerikaner die Produktion von hochgereinigtem Uran stetig steigerten. Heisenberg sagte später: „Die Physik davon ist im Grunde sehr einfach; es ist ein industrielles Problem. Es wäre Deutschland überhaupt nie möglich gewesen, etwas in dem Umfang aufzuziehen. In einer Hinsicht bin ich ganz froh, daß es nicht möglich war, weil es für uns alle schrecklich gewesen wäre.“[21]

Eine nachweisbare Verzögerung durch Heisenberg gab es bei den Experimenten nur durch sein Beharren auf einer Plattenanordnung bei den Versuchen zur Erzeugung einer selbstständig laufenden Kettenreaktion, also zur Uranmaschine. Schon 1942 war es dem Experimentalphysiker Karl–Heinz Höcker klar, daß eine Würfelanordnung günstigere Ergebnisse brachte.[22] Es kann aber auch wichtig gewesen sein, daß Heisenberg möglicherweise die Menge der für eine Bombe benötigten kritischen Masse von U235 bzw. Plutonium falsch auf mehrere Tonnen geschätzt hatte. Otto Frisch und Rudolf Peierls hatten in London diese Berechung, die Diffusionsgleichung, schon 1940 richtig gelöst.[23]

Im Winter 1941 scheiterte die Rußlandoffensive, und Fritz Todt, der Reichsminister für Bewaffnung und Munition, forderte Hitler dazu auf, Prioritäten zu setzen, man könne die Illusion einer Friedenswirtschaft nicht aufrechterhalten. Nach dem Flugzeugabsturz Todts machte Hitler überraschend den Monumentalarchitekten Albert Speer zu dessen Nachfolger. Nun muß man wissen, das Hitler zwar immer von einer „Geheimwaffe“ träumte, aber über das Atomprojekt zunächst nur von seinem Leibfotografen Heinrich Hoffmann „nach Art der Sonntagszeitungen“[24] auf dem Laufenden gehalten wurde.

Das Heereswaffenamt schloß im Frühjahr 1942 aus den Berichten der Physiker, daß die Kernenergie nicht mehr kriegsrelevant sein würde – man glaubte zu dem Zeitpunkt, er sei in ein bis zwei Jahren auch ohne Wunderwaffen zu gewinnen.[25] Am 26.2.1942 hatten die Atomforscher, darunter auch Heisenberg, allgemeinverständliche Vorträge vor Vertretern von Partei, Reichsforschungsrat und Wirtschaft im Haus der deutschen Forschung gehalten, die den Stand von Forschung und Experimenten realistisch darstellten: es war möglich, eine Bombe zu bauen, aber es würde sehr teuer sein, und die Atombombe konnte auch bei einer großindustriellen Anstrengung nicht vor 1944-45 fertig werden. Der Leiter des Heereswaffenamts, Erich Schumann, hatte daraufhin das Projekt dem Reichsforschungsrat übergeben und sich der Raketenforschung unter Wernher von Braun in Peenemünde zugewandt.

Trotzdem hätten Heisenberg und seine Forschungsgruppen die Anstrengungen für eine Atombombe auch danach noch forcieren können.

 

Auf Wunsch Speers wurde eine weitere Konferenz am 4.6.1942 in Berlin abgehalten, auf der er sich selbst davon überzeugen wollte, ob die Geheimwaffe Atombombe machbar wäre. Teilnehmer waren die Kernphysiker, Speer selbst sowie Generäle und Industrievertreter. Nach einer Reihe von Vorträgen forderte Heisenberg, der zum Leiter der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft avanciert war, nur neue Gebäude, kriegswichtige Rohstoffe und eine Aufstockung des Forschungsetats um 40.000 Reichsmark. Als Speer ihm statt dessen Hunderte Assistenten und ein paar Millionen geben wollte, lehnte er mit der Begründung ab, er wisse mit Mitteln dieser Größenordnung nicht umzugehen.[26] Heisenberg, Vater einer Familie mit sieben Kindern, wollte nicht die Verantwortung für ein so gewaltiges Projekt übernehmen, wenn er für einen Erfolg nicht garantieren konnte. Für den stets in größten Dimensionen denkenden Speer dagegen waren Heisenbergs Forderungen so lächerlich gering, daß er schloß, die Physiker hätten selbst kein Vertrauen in ihr Projekt.

Am 17.6. desselben Jahres beschlossen dagegen die Amerikaner, den Bau der Bombe voranzutreiben. Die Deutschen gaben letztlich nur weniger als ein Prozent der über zwei Milliarden Dollar aus, die die Amerikaner in das Manhattan Project investierten. Während in den USA Fabriken aus dem Boden gestampft wurden und bis zu 150.000 Menschen in dem Projekt arbeiteten, fehlten in Deutschland nicht nur Arbeitskräfte – hier hätte man wie in anderen Industrien Zwangsarbeiter einsetzen können – sondern vor allem auch Physiker, da man viele der jungen Wissenschaftler eingezogen und die jüdischen entlassen und vertrieben hatte.

Ab 1942 arbeiteten Heisenberg und von Weizsäcker verstärkt in der astrophysikalischen Grundlagenforschung. Alle Forschungen der Experimentalphysiker galten nun einer Uranmaschine. Verschiedene Forschergruppen waren fieberhaft und bis in die letzten Kriegstage damit beschäftigt, eine durch Kernspaltung ausgelöste, sich selbstständig erhaltende Kettenreaktion zu erzeugen[27]. Wegen der Fliegerangriffe der Alliierten mußten die Institute ausgelagert werden. Das letzte, fast kritisch gewordene Experiment mit der Uranmaschine B-VIII wurde unter großen Mühen in einer Höhle bei Haigerloch durchgeführt, nur zwei Monate, bevor die meisten der beteiligten Forscher von den Alliierten festgenommen wurden.

Schon im Sommer 1943 hatte allerdings Hitler einen Antrag der Wehrmacht genehmigt, aufgrund seines hohen spezifischen Gewichts Uran für panzerbrechende Granaten zu verwenden. „Man kann sich kaum eine groteskere Anordnung vorstellen; die Hoffung auf eine deutsche Atombombe war so völlig erloschen, daß das 1940 in Belgien beschlagnahmte kostbare Metall – die Quelle (…) so vieler Ängste und Befürchtungen in Großbritannien und Amerika – nunmehr gegen den Feind geschleudert werden sollte.“[28]

 

Die richtige Stelle

„Man kann verstehen, in welchem Dilemma sie jetzt stehen. Was sollen sie ihren Landsleuten über die Rolle erzählen, die sie gespielt haben? Verheimlichten sie der Naziregierung absichtlich die Möglichkeit, eine Bombe zu bauen, und trugen so zur Niederlage ihres Landes bei? Hätten sie das auch getan, wenn sie gewußt hätten, daß ihr Land ernsthaft von einem atomaren Angriff bedroht war? Hatten sie geurteilt, die Bombe könne mit den verfügbaren Mitteln und Organisationen nicht gebaut werden (…), oder waren sie nur schlechte Physiker, die sich verrechnet hatten?“[29]

Nur wenige der Physiker waren ausgesprochene Nationalsozialisten, aber viele waren nationalpatriotisch. In dem Maß, wie sie ihre Arbeit an einer hochgefährlichen Waffe zu Beginn des Krieges mit Patriotismus gerechtfertigt hatten, gerieten sie nun in einen schizophrenen Zwiespalt: sich einerseits freuen zu können, Hitler die Bombe nicht geliefert zu haben, sich jedoch andererseits für die Niederlage Deutschlands verantwortlich zu fühlen. International dachten die in Farm Hall Eingeschlossenen nur dann, wenn es um ihr Ansehen anderen Forschern gegenüber ging – und hier kann man das Zerbröckeln einer maßlosen Selbstüberschätzung verfolgen. Als die Wissenschaftler vom Abwurf der amerikanischen Bomben erfuhren, wollten sie die Nachricht erst nicht glauben und waren dann niedergeschmettert, als sie realisieren mußten, wie weit ihnen die Amerikaner voraus waren.[30] Nur wenig später beginnen sie zu überlegen, an wem man sich nun orientieren solle.

Heisenberg: „Ich glaube, wir sind nun weit mehr an die Angelsachsen gebunden als zuvor, da wir keine Möglichkeit haben, zu den Russen überzuwechseln, selbst wenn wir wollten.“

Wirtz: „Die würden uns gar nicht lassen.“

Heisenberg: „Anderseits können wir es mit gutem Gewissen tun, weil wir sehen können, daß Deutschland in nächster Zukunft unter angelsächsischem Einfluß stehen wird.“

Wirtz: „Das ist eine opportunistische Einstellung.“

Heisenberg: „Im Moment ist es aber sehr schwierig, anders zu denken, weil man nicht weiß, was besser ist.“[31] (…) Ich meine, jeder von uns muß darauf achten, daß er an die richtige Stelle kommt.“

Weizsäcker: „Das war unter den Nazis nicht möglich. Die richtige Stelle wäre eigentlich in einem Konzentrationslager gewesen, und es gibt Menschen, die sich dafür entschieden. Natürlich geht es darum, wie man bei dem gegenwärtigen Regime in die richtige Position kommt, aber man kann es ja mal versuchen.“[32]

 

Der Greif

Nur wenige Reichsbürger sind jemals aus freiem Willen in ein KZ gegangen, ohne dort zu arbeiten. Einer von ihnen war Paul Rosbaud. Seine Frau Hilde war Jüdin und lebte mit seiner Tochter Angela in London. In Berlin hatte Paul Rosbaud eine Geliebte, Ruth Lange, eine deutsche Meisterin im Diskuswurf und Kugelstoßen. Ruths Schwester Hilde[33] war mit Georg Benjamin verheiratet, einem jüdischen Arzt, dem Bruder von Walter Benjamin. Ab 1933 wurde er in verschiedenen Gefängnissen und KZs interniert. 1942 gelang es Paul Rosbaud und Ruth Lange, in das KZ in Wuhlheide einzudringen. „Dort sah ich zum ersten Mal Menschen mit Hungerödemen. Durch eine geheime Mitteilung erfuhr Ruths Schwester, wo ihr Mann arbeitete. Ruth und ich gingen als Arbeiter verkleidet zu dem genannten Ort, und es gelang Ruth, unter den Augen der SS mit ihrem Schwager zu sprechen und ihm so viel Essen wie möglich zuzustecken.“[34] Sie besuchten auch das jüdische Krankenhaus in Berlin, Ruth organisierte Hilfsaktionen für kranke Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter. Erstaunlich bleibt, daß Rosbaud seine Verachtung der Nazis offen äußerte und er trotzdem nie denunziert wurde. Seine Akten bei der Gestapo blieben sauber, obwohl er nicht besonders vorsichtig war. [35]

Robert Jungk schreibt in „Heller als tausend Sonnen“: „Bevorzugter Treffpunkt für die ketzerischen deutschen Atomforscher war das Berliner Büro oder das kleine Haus des wissenschaftlichen Verlagsleiters Dr. Paul Rosbaud. Dieser temperamentvolle Österreicher, ein persönlicher Freund der meisten seiner Autoren, zeigte gegenüber der Gestapo eine an Tollkühnheit grenzende Furchtlosigkeit. Wenn überhaupt jemand für sich in Anspruch nehmen kann, die Seele des passiven Widerstandes der deutschen Wissenschaftler gegen Hitler gewesen zu sein, dann dieser warmherzige Mann, der nicht nur in Worten, sondern auch in Taten mitten im Krieg die Verbundenheit aller Menschen guten Willens hochhielt.“[36] Zu diesen „ketzerischen deutschen Atomforschern“ können demnach unmöglich von Weizsäcker oder Heisenberg gehört haben, denn beiden mißtraute Paul Rosbaud. 1944, als von Weizsäcker Professor an der Nazi-Prestigeuniversität Straßburg geworden war, warnte Rosbaud seinen Bruder Hans Rosbaud in einem Brief vor ihm: „Der Physiker ist bei weitem der listigste und diplomatischste. Sein Vater ist der bekannte Herr v.W.(…) Ich empfehle dir, dich im Umgang mit ihm auf Sachliches zu beschränken, und selbst da ist eine gewisse Zurückhaltung wünschenswert.“[37] Von Weizsäcker sagte1983 im Gespräch mit Arnold Kramish: „Ich kannte Paul Rosbaud nur flüchtig. Ich hatte den Eindruck, daß er mir nicht traute und deshalb nicht offen mit mir redete. Daher war ich über seine Tätigkeit während des Krieges nicht informiert. Ich hätte diese Tätigkeit bestimmt nicht verurteilt, auch wenn ich mich selbst anders verhielt.“[38]

Zu Werner Heisenberg sagte Rosbaud 1940 bei einem Besuch in dessen Dienstzimmer, er halte die Nazis für beschränkt. Heisenberg antwortete: „Vielleicht verstehen sie wirklich nichts, aber sie haben den Vorzug, einem Geld zu geben, wenn der Plan, den man zu entwickeln hat, nur groß genug ist.“[39] Zwei Jahre später, bei einem offiziellen Empfang Heisenbergs, saß Rosbaud neben dessen Frau Elisabeth, die sich gut mit ihm unterhielt. Heisenberg warnte sie mit einem Blick. „Als der Abend zu Ende und die Gäste gegangen waren, fragte sie Heisenberg, warum er ihr so besorgte Blicke zugeworfen habe. ‚Ich glaube, er ist ein Spion’, antwortete Heisenberg, ‚aber ich weiß nicht, für welche Seite – es wäre noch viel gefährlicher, wenn er ein Spion für die Nazis ist.’“[40]

 

Paul Rosbaud war promovierter Chemiker. Als Berater für Physik beim Springer-Verlag und Wissenschaftslektor der Zeitschrift Metallurgie kannte er praktisch alle, die sich mit Physik und Metallurgie beschäftigten. Er muß ein sehr geselliger Mensch mit vielen persönlichen Freunden gewesen sein, darunter Max von Laue, Lise Meitner und Otto Hahn. 1938 hatten diese an Versuchen gearbeitet, den Urankern mit langsamen Neutronen zu beschießen, als der Anschluß Österreichs Lise Meitner, die österreichisch-jüdischer Abstammung war, gefährdete. Lise Meitner schrieb Rosbaud später: „Ich persönlich erinnere mich gern an den letzten Abend in Dahlem, als Sie mit sehr viel freundschaftlichen Verständnis durch die Räume gingen und alles mögliche in meine Koffer legten. Ich habe auch nicht die Sendung Bücher vergessen, die Sie so sorgfältig ausgesucht haben.“[41]

Am 22.12.1938, Lise Meitner war längst in Stockholm eingetroffen, erzählte Otto Hahn Paul Rosbaud von Versuchen, die bewiesen, daß neue Elemente entstehen, wenn ein langsames Neutron auf ein Uranatom trifft. Hahn und sein Helfer Straßberg begriffen aber nicht, daß sie damit die Kernspaltung entdeckt hatten.[42] Rosbaud sorgte sofort für die Veröffentlichung der Arbeit in der Zeitschrift Naturwissenschaften an, wodurch das Experiment der ganzen Welt zugänglich wurde. Lise Meitner bekam einen Durchschlag des Originalmanuskripts von Hahn ins Exil gesandt, diskutierte die Ergebnisse mit ihrem Neffen Otto Frisch, der auf Weihnachtsurlaub bei ihr war, und fand schnell heraus, daß es sich um Kernspaltung handelte. Frisch brachte die Ergebnisse zu Niels Bohr, der kurz vor einer Reise nach Princeton stand, wo er Enrico Fermi, Edward Teller und anderen davon erzählte. Und diese eilten in ihre Labore, um das grüne Aufblitzen der sich in Energie verwandelnden Materie mit eigenen Augen zu sehen. Leo Szilard erinnerte sich: „Wir schalteten ein und sahen die Lichtblitze. Wir beobachteten sie eine kleine Weile, schalteten dann alles aus und gingen nach Hause. An diesem Abend bestand für mich nur noch ein sehr geringer Zweifel, daß die Welt auf ein großes Unglück zusteuerte.“[43]

 

Paul Rosbaud „hatte eine sanfte Stimme und sprach Englisch fast akzentfrei. Wenn er nichts zu tun hatte, wurde er melancholisch. Wenn er redete, war er voll Leben. Bescheidenheit war eines seiner hervorstechenden Merkmale. Mit der Moral nahm er es in seinem Verhalten peinlich genau. Er war auf zurückhaltende Art stets sehr gut angezogen – und sehr britisch.“[44]

Er „hatte seine helle Freude an den riskanten kleinen Streichen, mit denen er die Nazi-Obrigkeit in die Irre führte. Als die Aufforderung erging, für die Rüstung Kupfer zur Verfügung zu stellen, legte er sich einen eigenen Vorrat an. Er bat seine Gäste um ihr Kleingeld und vergrub es dann im Garten. Wenn er im Zug allein in einem Abteil saß, schraubte er sämtliche Gegenstände aus Kupfer ab und warf sie aus dem fahrenden Zug. Auf dem Postamt wurden die Leute angewiesen, immer möglichst nur eine Briefmarke mit dem entsprechenden Betrag auf die Briefe zu kleben, um Papier zu sparen. Paul schickte seine Briefe ohne Absender und mit ganzen Blöcken von Briefmarken des niedrigsten Wertes. Es war, als ob Paul Rosbauds Leben von einem Zauber beschützt wurde. Immer noch ist nicht restlos geklärt, wie er überleben und an seine Informationen herankommen konnte.“[45] Denn seine Freude an der Sabotage führte ihn in eine viel gefährlichere Richtung.

Da er mit einigen Forschern aus dem „Uranverein“ befreundet war, erfuhr er schon einen Tag nach der Gründung am 29.4.1939 davon. Er traf den englischen Wissenschaftler R. S. Hutton, der sich gerade in Berlin befand, und erzählte ihm davon. Dieser brachte die Nachricht nach England, wo sie aber nicht amtlich erfaßt wurde. Noch im selben Jahr ließ sich Rosbaud unter dem Decknamen „Greif“ als Spion für den britischen Geheimdienst SIS (Secret Intelligence Service) anwerben und berichtete regelmäßig an R.V. Jones (britische wissenschaftliche Abwehr, M16) und Eric Welsh, der sich selbst als Maulwurf in einer norwegischen Farbenfabrik nahe der Norsk Hydro befand, von wo aus er die Sabotageaktionen leitete. Außerdem arbeitete er mit dem französischen Untergrund und dem norwegischen Geheimdienst zusammen. Nach Arnold Kramish, der in seinem Buch The Griffin[46] Rosbauds Leben und Spionagetätigkeit behandelte, ist er der Autor des legendären Oslo- Reports, in dem die Briten über Peenemünde und die NS-Geheimwaffen – ferngesteuerte, raketengetriebene Gleitflugkörper, unbemannte Flugzeuge, neue Zünder etc. – informiert wurden.

Rosbaud bekam Anweisungen über den BBC. Wenn die Neun-Uhr-Nachrichten mit dem Satz „Das Haus steht auf dem Hügel“ begannen, folgte eine Nachricht für ihn. Er selbst sandte ab 1939 von ihm lektorierte wissenschaftliche Bücher, in denen verschlüsselte Nachrichten gedruckt waren, beispielsweise an Lise Meitner, die sie dann nach England an den SIS übermittelte. Viele von ihnen waren ganz einfach im Buchhandel erhältlich. „Mit Erstausgaben von Büchern konnte er selten etwas anfangen, weil die Autoren noch zu viel Kontrolle über den Text hatten. Bei späteren Ausgaben hatte der Lektor mehr Freiheit, den Text umzuschreiben und auf den neuesten Stand zu bringen.“[47]

Außerdem traf er sich mit dem norwegischen Studenten Sverre Bergh (Deckname „Sigurd“), dem er gleich nach Kontaktaufnahme in einem Bierzelt im Tiergarten von der Entwicklung in Peenemünde berichten konnte, nachdem Rosbaud selbst in Greifswald gewesen war. Er beschrieb die Häufigkeit der Tests, die Anlage und in groben Zügen eine V-2. Allerdings wurde dieser Bericht genau wie der Oslo-Report vom britischen Geheimdienst nicht ernst genommen. Man dachte eher, Rosbaud könne ein Doppelagent sein, als diese Berichte über Flugkörper zu glauben, die von keiner anderen Seite bestätigt wurden. Sverre Bergh, der in Dresden studierte, reiste 1942 bis 45 ständig zwischen Dresden und Berlin hin und her und übermittelte im Jahr allein drei bis fünf Nachrichten, die sich auf das Atomprogramm bezogen, nach England.

 

Auch von dem wichtigen Treffen zwischen den Physikern und Speer erfuhr Rosbaud schnell. Wenig später saßen „mehrere Wissenschaftler nach einer Sitzung der Gesellschaft für Physik abends in einem Café am Ku-damm. Dort bekannten sie, wie erleichtert sie waren, daß sie die Bombe nicht bauen mußten. Rosbaud hörte still zu, aber er mußte etwas trinken, damit er ruhig bleiben konnte. Schließlich platzte er heraus: ‚Unsinn! Wenn Sie wüßten, wie man die Bombe bauen könnte, würden Sie sie ihrem Führer auf einem silbernen Tablett präsentieren!’ Alle erschraken über Rosbauds ganz uncharakteristischen Ausbruch. Die Versammlung löste sich auf. Jeder hatte Angst, manche fürchteten, Rosbauds Ausruf könnte als Provokation Schaden anrichten.“[48]

Am 10.6.1942 besuchte er den norwegischen Kernphysiker Victor Goldschmidt in Oslo und berichtete unter anderem über dieses Treffen und sein Ergebnis: es würde keine deutsche Atombombe gebaut werden. Kurz nach Rosbauds Besuch kam auch der Heisenberg-Schüler Hans Daniel Jensen nach Oslo und hielt ein Kolloquium ab, dessen Teilnehmer fast alle in Verbindung zum norwegischen Untergrund standen. Auch er sagte, die Deutschen könnten keine Bombe bauen, seien aber am schweren Wasser wegen eines Reaktors interessiert.[49] Eric Welsh hatte nun Berichte aus zwei verschiedenen Quellen und forderte von Rosbaud noch eine Bestätigung, die auch im Sommer 1943 kam. Der SIS versicherte der britischen Regierung, das deutsche Atomprogramm sei „kein Grund mehr zu ernsten Befürchtungen“.[50] Leo Szilard dagegen hatte genau zur selben Zeit eine Nachricht erhalten, die ihn annehmen ließ, „daß innerhalb der nächsten Monate die Gefahr einer Bombardierung durch die Deutschen besteht. Dabei werden sie Bomben benutzen, die so konstruiert sind, daß sie radioaktives Material in tödlichen Mengen freisetzen.(…)“[51]. Die wenigen Informationen, die über Skandinavien nach England und von dort nach Amerika gelangten, wurden streng geheim gehalten. Eine letzte Mitteilung im Frühsommer 1942, die Amerika direkt erreichte, kam von Fritz Houtermans. Sie besagte, daß Deutschland weiter an der Atombombe forschte, wenn auch Heisenberg versuche, die Arbeit so weit wie möglich zu verzögern.[52] Das war bei weitem nicht genug, um das Manhattan Project aufzuhalten. So gingen die Amerikaner in ihrer Hochachtung der deutschen Physik davon aus, sie müßten sich sehr beeilen, während die deutschen Physiker fest davon überzeugt waren, die Amerikaner lägen weit hinter ihnen.

Rosbaud hatte eigentlich vor, auf dem Rückweg von seinem Besuch in Norwegen noch zu Niels Bohr nach Kopenhagen zu fliegen, erhielt aber keine Erlaubnis zur Zwischenlandung. Am 3.7. schrieb er an Bohr: „Es wäre für mich sehr wichtig gewesen, sie wiederzusehen. Ich wollte mit ihnen über einige Fragen sprechen, die sie wahrscheinlich ebenso interessieren wie mich.“[53] Nur eine Woche lag zwischen der endgültigen Entscheidung gegen eine deutsche Atombombe am 4.6.1942 und Rosbauds Besuch in Norwegen, und wieder eine Woche später, am 17.6., entschieden sich die Amerikaner für das Manhattan Project. Wenn Rosbaud Bohr besucht hätte, dann hätte dieser ihm vertraut. Paul Rosbauds enge Freundin Liese Meitner lebte im besetzten Kopenhagen und war gut mit Bohr befreundet.

Es gab dann noch einen deutschen Besuch bei Bohr vor dessen Flucht aus Dänemark. Hans Daniel Jensen kam im Sommer 1942 vorbei und teilte Bohr offen mit, er sei auf dem Weg nach Norwegen, um eine Steigerung der Liefermengen an schwerem Wasser zu erreichen; die Deutschen seien aber nur noch an einem Reaktor interessiert. Bohr hielt Jensen jedoch gerade wegen seiner Offenheit für verdächtig.

 

Egal, was Heisenberg dachte, als er im Herbst 1941 Bohr besuchte, bei Rosbauds Besuch wäre es eine Tatsache gewesen, daß es kein deutsches Atombombenprojekt mehr gab. Und wenn auch keiner von Rosbauds zahlreichen Berichten vom britischen an den amerikanischen Geheimdienst weitergegeben wurde – Bohr war der einzig mögliche Bote, dem sowohl General Groves als auch die Wissenschaftler geglaubt hätten. Im Herbst 1943 wäre das Manhattan Project sicher nicht mehr abgesetzt worden, aber man hätte sich nicht mehr ganz so beeilt. Die USA hätten den Krieg auch gegen Japan gewonnen, bevor sie in der Lage gewesen wären, Atombomben abzuwerfen.

 

[1] Philip K. Dick, The Man in the High Castle, New York 1962
[2] Im Daodejing von Lao-tse heißt es im Abschnitt 51: „Dao entsteht im Wu. De kultiviert sich im Wu. Dinge finden ihre Form im Wu. Einflußkraft vollendet sich im Wu.“ Dazu erklärend aus Abschnitt 50: „Qi wu si di.“ („Wu – diese Einheit von Leere und Fülle ist die höchste Steigerung der Welt.“)
[3] Das reicht von der Standardschullektüre von Friedrich Dürrenmatt, Die Physiker, Zürich 1955 und Heinar Kipphardt, In der Sache J. Robert Oppenheimer, Frankfurt a.M. 1964, über Schmöker wie Geheimsache Norsk Hydro, DDR 1968, bis zu Krimis wie Joseph Kanon, Los Alamos, New York 1997. Siehe außerdem: Off Limits für das Gewissen. Der Briefwechsel zwischen dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly und Günther Anders, hrsg. von Robert Jungk, Reinbek 1961.
[4] Michael Frayn, Kopenhagen, London 1998.
[5] Einsehbar im Niels-Bohr-Archiv, http://www.nbi.dk/NBA/papers/introduction.html und http://www.nbi.dk/NBA/papers/docs/cover.html.
[6] Die Theorie vom Widerstand der Forscher verbreitete vor allem das erste wichtige Buch über die Entwicklung der Atombombe: Robert Jungk, Heller als Tausend Sonnen, Stuttgart 1956, das auf Samuel Goudsmits Alsos, London 1947, folgte. Robert Jungk hat seine Ansicht später revidiert und war empört über den Versuch „gewisser deutscher Wissenschaftler“, sich durch den „Mythos vom passiven Widerstand“, an den sie schließlich selbst geglaubt hätten, reinzuwaschen. Siehe Jungks Vorwort zu Mark Walker, Die Uranmaschine: Mythos und Wirklichkeit der deutschen Atombombe, Berlin 1990, S. 7; orig. German National Socialism and the Quest for Nuclear Power. 1939-1949, Cambridge 1989. Neuerdings folgte das umfassend recherchierte, aber journalistisch geschriebene Werk von Thomas Powers, Heisenberg’s War. The Secret History of the German Bomb, New York 1993, deutsch: Heisenbergs Krieg. Die Geheimgeschichte der deutschen Atombombe, Hamburg 1993. Hier versucht Powers eine Ehrenrettung Heisenbergs, die auch die Grundlage für Frayns Kopenhagen bildet. Eine recht giftig argumentierende Gegenposition nimmt Paul Lawrence Rose in Heisenberg and the Nazi Atomic Bomb Project: A Studie in German Culture, Berkeley 1998, ein.
[7] Dokument 8 und 9, siehe auch Dokument 10, www.nbi.dk/NBA/webpage.html.
[8] Nur Rose in Heisenberg and the Nazi Atomic Bomb Project argumentiert, Ernst und Carl Friedrich von Weizsäcker hätten Heisenbergs Vortragsreise organisiert, nachdem in einer Stockholmer Zeitung ein amerikanisches Atombombenprojekt angedeutet worden sei. Zweck der Reise sei gewesen, Bohr auszuhorchen.
[9] Powers, Heisenbergs Krieg, S. 164
[10] So erinnert sich seine Frau, Elisabeth Heisenberg, in ihrem Buch: Das politische Leben eines Unpolitischen, München 1991, S. 79.
[11] Er ähnelt verdächtig den Bemühungen der amerikanischen Wissenschaftler, sich nach dem Abwurf der Atombomben in Komitees zusammenzuschließen, die erst die Atomphysik aus dem Dienst für Heer und Flotte herauslösen wollten und dann gegen die Entwicklung der Wasserstoffbombe, der „Super“, eintraten.
[12] Horst Korsching, in: Dieter Hoffmann, Operation Epsilon, Die Farm-Hall-Protokolle oder die Angst der Alliierten vor der deutschen Atombombe, Berlin 1993, S. 131.
[13] in: Hoffmann, Operation Epsilon, S. 338 – 339. Das Gespräch mit von Weizsäcker führten Dieter Hoffmann, Helmut Rechenberg und Tilman Spengler 1993.
[14] Dieter Hoffmann, Operation Epsilon, Die Farm-Hall-Protokolle oder die Angst der Alliierten vor der deutschen Atombombe, Berlin 1993, S. 131. Siehe auch Jeremy Bernstein, Hitler’s Uranium Club: The Secret Recordings at Farm Hall, Woodbury, N.Y. und New York 1996.
[15] Hoffmann, Operation Epsilon, S. 154-55
[16] Hoffmann, Operation Epsilon,, S.170
[17] Sebastian Flügge veröffentlichte den Aufsatz im Juni 1939 in den „Naturwissenschaften“.
[18] Samuel Goudsmit, der wissenschaftliche Leiter der Alsos-Mission (der Abteilung des amerikanischen Geheimdienstes, die sich mit der deutschen Nuklearforschung beschäftigte), behauptete nach dem Krieg irrtümlich, die Deutschen hätten das Plutonium noch nicht entdeckt. Außerdem glaubte er, sie hätten auch die Bombe nicht verstanden und machte sich darüber lustig, daß die dummen Nazis einen Reaktor über London abwerfen wollten.
[19] Die Amerikaner setzten auf Graphit. Der Mangel an Graphit machte später auch den Bau der deutschen Luftabwehrrakete Wasserfall unmöglich.
[20] Sehr spannend nachzulesen in Arnold Kramish, The Griffin, USA 1986; deutsch Der Greif, Kindler 1987, S. 66; außerdem in R.V. Jones, The Wizard War; British Scientific Intelligence, New York 1978. Siehe auch Powers, Heisenbergs Krieg, S. 270-79
[21] Heisenberg in Farm Hall, 1945. Siehe Hoffmann, Operation Epsilon, S. 217
[22] Siehe Walker, Die Uranmaschine, S. 121ff. und 202f. Höcker und die Arbeitsgruppe in Gottow setzten sich schließlich durch.
[23] Die Frage, ob es letztlich falsche oder unterlassene Berechungen waren, die das Projekt einer Atombombe unrealisierbar groß erscheinen ließen, ist verwirrend komplex, denn Heisenberg hatte noch 1941 von der – annähernd richtigen – Größenordnung von 50 kg (der Größe einer Ananas) gesprochen, obwohl auch das anscheinend nicht auf einer korrekten Berechnung beruhte. Nach Abwurf der amerikanischen Bombe ließ es Heisenberg „keine Ruhe“, bis er eine Woche später den anderen Physikern die Grundlagen der Bombe in einem Vortrag erklären konnte. Siehe Hoffmann, Operation Epsilon, S. 148, S. 162, S. 171, S. 190ff
[24] Thomas Powers, Heisenbergs Krieg, S. 211
[25] Siehe Walker, Die Uranmaschine, S. 65ff.
[26] Letztere Äußerung habe ich nur bei Kramish, Der Greif, gefunden. Kramish hat leider keine Fußnoten mit Belegen gemacht, so daß man manchmal nicht weiß, woher seine Informationen stammen.
[27] Enrico Fermi war sie in den USA schon am 2.12.1942 gelungen.
[28] Powers, Heisenbergs Krieg, S. 213
[29] So Paul Rosbaud nach dem Krieg, in: Kramish, Der Greif, S. 166
[30] Hahn: „Auf jeden Fall, Heisenberg, sind Sie eben zweitklassig, und sie können einpacken.“
Heisenberg: „Ganz Ihrer Meinung.“
Hahn: „Die sind fünfzig Jahre weiter als wir.“
In: Hoffmann, Operation Epsilon,, S. 147
[31] in: Hoffmann, Operation Epsilon, S.170
[32] in: Hoffmann, Operation Epsilon, S. 181. Heisenberg behielt recht: fast alle Forscher gelangten wenig später wieder zu hohen Posten, in Deutschland wie anderswo.
[33] Hilde Benjamin wurde später die „rote Hilde“ genannt. Als Justizministerin der DDR genehmigte sie den Mauerbau.
[34] Kramish, Der Greif, S. 284
[35] Siehe z.B. Powers, Heisenbergs Krieg, S. 446 und S. 555ff.
[36] Jungk, Heller als tausend Sonnen, S. 116f.
[37] Kramish, Der Greif, S. 149
[38] Nach: Kramish, Der Greif, S. 148.
[39] Nach: Powers, Heisenbergs Krieg, S. 158
[40] So erinnert sich Elisabeth Heisenberg 1988 in einem Interview. Nach: Powers, Heisenbergs Krieg, S.159
[41] Kramish, Der Greif, S. 66-67.
[42] Das hatte auch schon Enrico Fermi bei seinen 1934 durchgeführten Versuchen, Uran mit Neutronen zu beschießen, nicht begriffen.
[43] Walker, Die Uranmaschine, S. 85
[44] Erinnerung von Esther Simpson, in: Kramish, Der Greif, S. 63
[45] Kramish, Der Greif, S. 276
[46] Arnold Kramish, The Griffin, USA 1986
[47] Ragnar Winsnes, zitiert nach: Kramish, Der Greif, S.292
[48] Kramish, Der Greif, S. 166
[49] Siehe auch: Powers, Heisenbergs Krieg, S. 224 ff.
[50] Kramish, Der Greif, S. 169
[51] nach Powers, Heisenbergs Krieg, S. 227. Die amerikanischen Wissenschaftler fürchteten den Abwurf von radioaktivem Staub auf ihre Laboratorien – von denen die Deutschen nicht einmal ahnten.
[52] Powers, Heisenbergs Krieg, S. 260 f.
[53] Kramish, Der Greif, S.168