Eine Diskussion über die Möglichkeiten von Malerei und Fotografie, über Realität und Realismus sowie über die Einflüsse neuer Medien in der Malerei

Die Ausstellung in der Kunsthalle Basel zeigt dreiundzwanzig Positionen aktueller Malerei. Zwei der beteiligten Künstlerinnen und Künstler, Antje Majewski aus Deutschland und Xie Nanxing aus China, führen mit Peter Pakesch ( Leiter der Kunsthalle Basel ) und Anne Krauter ( Kunsthistorikerin, Schweiz ) ein Gespräch über Möglichkeiten der Malerei heute und die Wechselbeziehungen zwischen technischen Bildmedien und Malerei.

 

Peter Pakesch:
Der moderne Umgang mit Bildern war geprägt von der Rivalität zwischen Malerei und Fotografie, und es scheint, dass sich dieser Dialog fortsetzt. So wie das Lichtbild einst die Abbildung des Gegenstandes relativierte, so provoziert es heute eine Rückkehr zu Fragen des Realismus, bei der Fotografie und Malerei in produktiver Differenz stehen. Noch bis in die unmittelbare Gegenwart galt, dass die Praxis der Fotografie die veristische Darstellung in der Malerei hinfällig gemacht habe, dass die Malerei bestenfalls noch über das fotografische Bild und über das Bild im allgemeinen reflektieren könne. Die direkte Darstellung der Wirklichkeit aber schien aus ihrem Themenkreis verbannt. Und doch erkennen wir jetzt, wie intensiv jüngere Künstlerinnen und Künstler sich durch die Beschäftigung mit der Fotografie und den elektronischen Bildwelten der neuen Medien auch dem Problem der malerischen Darstellung von Wirklichkeit widmen und wie hier neue Konzepte einer realistischen Kunst entstehen.

Anne Krauter:
Malerei steht, so scheint es, für eine Hoffnung auf Authentizität. Damit operiert beispielsweise Johanna Kandl in ihren tagebuchartigen Bildern. Sarah Morris hingegen nutzt die Malerei für einen letztlich hochpolitischen Akt. Beide Künstlerinnen gehen mittels Malerei über technische Reproduktionsverfahren hinaus, obwohl diese eindeutig eine Rolle spielen.

Der Philosoph Vilém Flusser hat vor einiger Zeit auf die epochemachenden Eingriffe der technisch erzeugten Bildwelten seit der Erfindung der Fotografie auf unsere Wahrnehmung hingewiesen. Er hat aufgezeigt, wie sie in der Folge unsere traditionelle Kommunikationssysteme modifizieren. Der Psychologe Lev Manovich wiederum hob eine veränderte Rezeption der analogen Fotografie und des Films im Zeitalter digitaler Bildwelten hervor: Sagte man der analogen Fotografie medienkritisch gesehen über weite Strecken eine inhumane Objektivität des Abbildens nach, so gelangt sie nun durch die Erfahrungen mit digitalen Bildbearbeitungsverfahren zusehends in den Kultstatus eines « Originals ». Ein ähnliches verändertes Rezeptionsverhalten kennzeichnet den Umgang mit dem traditionellen Film.

Mich interessiert daher, wie Ihr vor diesem Hintergrund über technisch hergestellte Bilder denkt, wie Ihr sie konkret für Eure Malerei einsetzt und an welcher Stelle des Malprozesses Ihr Euch auf fotografische Bilder stützt. Was leistet demnach in Euren Augen die Fotografie? Wie stellt Ihr Euch zum Film und den elektronischen Bildmedien? Ich erhoffe mir im Verlauf unseres Gesprächs Auskünfte von Euch über Konzeptionen realistischer Kunst heute.

Xie Nanxing:
Natürlich faszinieren mich die neuen digitalen oder andere fotografische Bilder, aber nur an der Oberfläche. Meine Arbeiten haben wohl in letzter Zeit etwas mit Fotografie zu tun, dies ist jedoch lediglich ein Aspekt. Wie bei anderen Künstlern auch wandelt sich meine Kunst unwillkürlich, weil ich diejenigen technischen Möglichkeiten nutze, die mir zur Verfügung stehen. Schliesslich wollten die Künstler zu allen Zeiten auf einem aktuellen technischen Stand tätig werden und von den modernsten bilderzeugenden Techniken profitieren. Dies trifft auf Künstler in der Zeit der frühen Fotografie ebenso zu wie auf uns heute, die wir in einer Flut technischer Bilder operieren. Können wir uns überhaupt noch in einem Umfeld von modernen bildgebenden Verfahren mit manuellen Bilderzeugnissen zufrieden geben, deren Vorzüge in grosser handwerklicher Fertigkeit und einem ausserordentlich hohen persönlichen Einsatz zu sehen sind? Natürlich nicht!

In meinen jüngsten Arbeiten benutze ich daher vor allem alltägliche, unspektakuläre visuelle Verfahren. Ich will Dinge aufspüren, die man leicht übersehen kann, zum Beispiel viele interessante Kleinigkeiten, die auf der Bildoberfläche flüchtiger Fernsehbilder erscheinen. Ich habe mich früher auch von qualitativ anspruchslosen Drucksachen inspirieren lassen. Die analoge Fotografie verwende ich eher selten in meiner Arbeit, in der Regel im Zusammenhang mit Ausstellungsvorbereitungen.

Ganz allgemein gesprochen, helfen mir die technischen Möglichkeiten, gewisse Phänomene festzuhalten, die das menschliche Auge so nicht wahrnimmt. Ich habe festgestellt, dass es ein grosses Problem fotografischer Bilder ist, « Irrtümer zu verursachen ». Offengestanden, ich bin sehr froh über diese « Unzulänglichkeit ». Ich mag die schlechten Ergebnisse, zu denen es bei Fotos aus unterschiedlichsten, zufälligen Gründen kommt. In meiner Arbeit « Ohne Titel 2000, Nr. 1 » habe ich gerade die Eigentümlichkeit der Unterbelichtung eines Strassenbildes benutzt. Die nicht richtig belichteten Stellen lassen Details verschwinden und bilden einen grossen Schatten, dennoch kann man ihr Dasein erahnen. Der unerschliessbare Raum scheint die gesamte Bildfläche unsichtbar zu machen, wodurch ein beängstigendes Einsamkeitsgefühl entsteht. Die Malerei steigert diesen Effekt sogar noch. Ausgangspunkt meiner vor kurzem entstandenen Arbeit « Triptychon ohne Titel 2001, Nr. 1 » war eine Art nicht-natürlichen Lichtstrahls, den ich beim Nebeneinanderstellen verschiedener Fernsehbilder entdeckt habe. Diesen aussergewöhnlichen Rhythmus des Lichts habe ich übernommen, indem ich eine Sequenz von Bildflächen zusammenstellte.

Antje Majewski:
Für mich sind Fotos eine unverzichtbare Hilfe; sie werden im Computer zusammengesetzt und bearbeitet, und daraus entsteht die Vorlage für meine Malerei. Meistens verwende ich eigene Fotos. Für mich ist allein das letztlich gemalte Bild wichtig und nicht der Weg dahin. Deshalb macht es für mich keinen Unterschied, ob die Vorlagen auf Schnappschüssen basieren oder auf von mir arrangierten Szenen wie in der L’Invitation au Voyage-Serie, die ich letztes Jahr in der Kunsthalle Basel gezeigt habe. Wie Xie Nanxing benutze ich auch gerne Zeitungsfotos oder Fernsehbilder, die schon deshalb « malerisch » sind, weil die Auflösung so grob ist und dabei viele Einzelheiten wegfallen oder unerklärlich werden. « Unzulänglichkeiten » wie übersteigerte Farben oder Kontraste, die durch Blitzlicht entstehen, übernehme ich ebenfalls gerne.

Das gemalte Bild muss meiner Vorstellung entsprechen. Ob diese Szenen sich jemals genau so abgespielt haben, ist dabei unwichtig. Ich bin von den Möglichkeiten, die Photoshop bietet, begeistert; die Werkzeuge ähneln nicht nur zufällig denen der Maler. Am « authentischen » Foto hat mich immer am meisten die Unveränderbarkeit gestört.

Xie Nanxing:
Ich sagte zwar, ich sei froh über diese « Unzulänglichkeiten » technischer Bildmedien, und Antje bestätigt dies für ihre eigene Arbeit. Ich möchte jedoch auch betonen, dass das Potential fotografischer Wiedergabeverfahren ganz eindeutig unsere Lesegewohnheiten in bezug auf das Vertrauen in die « Realität » verändert hat. Unsere Erwartungen an die Möglichkeiten der Wirklichkeitsvermittlung haben durch fotografische Verfahren eine neue Prägung erfahren. Mir scheint, dass wir eine hohe Bereitschaft zeigen, den technischen Abbildern der Wirklichkeit Vertrauen zu schenken. Als wäre es uns insgeheim lieber, wenn sich die reale Welt über die Linse statt über das Auge, über mechanisch hergestellte statt über handgemalte Bilder erschliesst. Wenn ich dagegen hoffe, durch Malerei Malerei zum Ausdruck zu bringen, stosse ich auf Fragen des Bildes.

Antje Majewski:
Ich versuche herauszufinden, wo der Unterschied liegt zwischen dem, was der Apparat festhält, und unserer visuellen Wirklichkeit. Ich glaube, die realistische Malerei hat gegenüber der Fotografie den Vorzug, dass sie für den Menschen bequemer ist. Ein Foto bleibt dem Sehen fremd; es wird als übergenau empfunden, als perspektivisch falsch. Besonders deutlich wird dies angesichts von Fotos der Becher-Schüler, die auch deshalb so erfolgreich sind, weil sie die Eigenschaften der Fotografie überspitzen und übertreiben. Sie führen damit einen gewissen Erhabenheitseffekt ein: man sieht etwas Reales und Bekanntes, aber es wirkt, als sähe man durch die vergrösserten Augen eines Übermenschen. Tatsächlich ist es nicht die Linse, die mehr sieht als die menschlichen Augen; man sieht quasi nicht mit einem grösseren Auge, sondern mit einem grösseren Gehirn.

Die Verarbeitung der visuellen Eindrücke im Gehirn unterscheidet sehr schnell zwischen Wichtigem und Unwichtigem, unterdrückt Einzelheiten oder ganze Bildbereiche, fasst zusammen, vergrössert Gegenstände im Hintergrund, so dass sie im Verhältnis zur mathematischen Zentralperspektive zu gross erscheinen, und so weiter. Alles, was wahrgenommen wird, läuft durch einen Deutungsfilter. Unter dem Einfluss von Drogen wie LSD, die mehr visuelle Daten in die verarbeitenden Bereiche des Gehirns leiten, sieht man die Wirklichkeit nicht wie ein Foto von Gursky oder Höfer mit seinen vielen kleinen Einzelheiten; im Gegenteil, man kann nun geradezu das Gehirn beim Verfälschen der vom Auge gelieferten Informationen beobachten: überall will man zum Beispiel Gesichter sehen, auf deren Erkennung und Deutung das Gehirn besonders trainiert ist.

Xie Nanxing:
Das grosse Problem der Fotografie ist die Fixierung auf die einzelne Linse ( das einzelne Auge ). Exakt und unermüdlich beobachtet sie die ganze Umgebung und zeichnet sie auf. Dennoch ist dies eine eingeschränkte Wahrnehmung, oder können wir ernstlich glauben, die Aufzeichnung eines einzelnen Auges liefere reale Eindrücke? Wenn man zum Beispiel ein Auge schliesst und Dinge in schneller Bewegung betrachtet, verhindert die Geschwindigkeit, dass man die Dreidimensionalität des Raums wahrnimmt, schliesslich muss man ja auch noch für eine 250stel Sekunde blinzeln. Ein Beispiel: Wenn wir Duane Michals’ Porträtserie von Andy Warhol betrachten, meinen wir, den Verlauf von Andys Bewegungen nach links, rechts, oben und unten wahrzunehmen. Gemäss dem exakten Kunstprinzip der Fotografie sind die letzten beiden Bilder jedoch « missglückt », sie sehen aus, als seien sie das Ergebnis einer fehlerhaften Fotoentwicklung. Künstlerisch sind diese Bilder dagegen sehr interessant: Die verwischten Bewegungen Andys wirken wie Pinselstriche, die ein Maler zu Übungszwecken übereinander gemalt hat. Einige solcher « schlechten Fotos » sind ganz eng mit dem Vorstellungsvermögen unseres Gehirns verbunden; wenn ich meinen Phantasien nachhänge oder etwas entwerfe, bilden solche Bilder das letzte Glied in der Kette möglicher Gestaltungsvariationen.

Antje Majewski:
Malerei, die auf dem von zwei Augen Gesehenen basiert, kann eine täuschende Dreidimensionalität erreichen. Bewegung, die durch Verwischung simuliert werden kann, sieht auf Fotos und Gemälden ähnlich aus und wirkt immer zweidimensional. Es ist interessant, dass sich zum Beispiel Degas gleichzeitig für Bewegung, für Fotografie und für japanische Holzschnitte interessiert hat – zweidimensionale Geschehen auf einer Fläche. Man könnte argumentieren, dass es nicht die schnelle und präzise Abbildung durch Fotografien war, die realistische Malerei verdrängt hat. Diese Vorstellung kam mir immer seltsam vor, denn fast ein Jahrhundert lang war die Fotografie ja schwarz-weiss und von daher weit von der Realität entfernt. Ich glaube, dass für die Maler die Verlockung einer Komposition auf der Fläche eine grosse Rolle gespielt hat. Etwas ganz Neues! Das wollte man ausprobieren.

Eigentlich ist es seltsam, dass niemand stereoskopische oder holografische Fotografien weiter verfolgt hat, die doch bei ihrer jeweiligen Entdeckung ein grosser Erfolg waren, geschweige denn die vielen Dimensionen des Kubismus ( oder die « vierte Dimension » Duchamps ). Nicht einmal das stereoskopische Fernsehen gibt es. Schon in einer griechischen Maleranekdote geht es um die Vortäuschung dreidimensionaler Fruchtschalen und Vorhänge. Ein Bild von Piero della Francesca lässt uns Gegenstände im Raum wahrnehmen. Heute gibt es keine Abbildungsart mehr, die das kann, wenn sie nicht selbst dreidimensional ist. Vom Foto zum Digitalprint, vom Film zum Digitalvideo wird die Abbildung immer flächiger, zweidimensionaler. Science-fiction-Filme wie Musikvideos phantasieren holografische oder 3D-animierte Menschen und Gegenstände herbei; angeblich kann die Autoindustrie oder die Chirurgie sie brauchen, aber nicht die Kunst oder der Alltag.

Anne Krauter:
Man kommt offenbar als Malerin oder Maler gegenständlicher Motive heutzutage um die Auseinandersetzung mit den physiologischen Gegebenheiten des menschlichen Auges ebensowenig herum wie um die Beschäftigung mit den äusseren Bedingungen – ich meine damit, was man unter den so leicht dahergesagten Begriffen «Realität» oder « Wirklichkeit » versteht. Die Stellung von Malerei und Fotografie im Verhältnis zur wahrgenommenen bzw. abgebildeten Realität bleibt für Euch beide brisant.

Antje Majewski:
Wenn es nur um die Darstellung von Wirklichkeit geht, ist der eigentliche Konkurrent der Malerei nicht die Fotografie, sondern der Film. Den Film sieht man wie etwas Selbsterlebtes; er bietet Bewegung und Ton.

Eine meiner Lieblingsvorstellungen war immer, eine Simstim-Künstlerin zu sein wie Lise aus « The Winter Market » ( 1985 ) von William Gibson, natürlich ohne ihre Krankheit und das Exoskelett. Lise kann ihre Träume und Erlebnisse aufzeichnen und zu Kunstwerken zusammenschneiden, die andere als virtuelle Realität nacherleben. Der Trick besteht darin, dass das Nacherleben im Gehirn hervorgerufen wird, nicht durch die äusseren Sinnesorgane wie bei einer Virtual-Reality-Brille.

Xie Nanxing:
Ich denke, aus der Sicht eines Fotografen liegt das Problem noch immer darin, dass ausgerechnet dann seine grösste Not zum Vorschein kommt, wenn er sich mit der Realität konfrontiert sieht. Hofft er doch, alles Wissen im Werk zu vereinen wie ein Maler, der seinen Gegenstand darstellt. Das ist jedoch keineswegs einfach. Am Ende bildet der Fotoapparat lediglich das exakte Motiv ab. Die Malerei geht hier tatsächlich einen anderen Weg. Sie ist zu einer Art malerischem Spiel geworden. Die Objekte bilden den Massstab. Der künstlerische Ausdruck des Malers, seine Erfahrungen durch die Ausbildung, die Vieldeutigkeit der malerischen Wiedergabe und sein konzeptioneller Kampf mit dem Gegenstand sind Bestandteile dieses Spiels. Hinzu kommt, dass Erinnerungen an Gemälde anderer Künstler wach werden. – Die Werke der Malerei scheinen alles in allem ein Organ zu sein, das die Aktivitäten des durchsichtigen Gehirns eines Malers beobachtet.

Antje Majewski:
Ich habe beobachtet, dass die Betrachter auf ein gemaltes realistisches Bild wie auf einen anderen Menschen reagieren. Alles hat Bedeutung. Man schaut in ein « Gesicht », vielleicht auch eine Theatermaske: jeder Pinselstrich wird zur gehobenen Augenbraue.

Die klassische Fotografie versucht diesen Vorsprung an Empathie durch eine besonders « humanistische » Abbildung von Menschen wettzumachen; wenn die Fotografie durch eine Bürgerkriegswitwe zu Tränen rühren will, kann das in der Malerei vielleicht ein kleines, von Velázquez gemaltes Ei.

Xie Nanxing:
Ich stimme dem zu, was du sagst, wenn man unbedingt auf sehr einfache und überhebliche Weise das von einem selbst favorisierte Medium loben will. Nichts anderes taten damals die Fotografieliebhaber. Finden wir etwa nicht, dass die Fotografie durch die Darstellung extrem kleiner oder riesiger Räume eine ganz eigene Erfahrung ermöglicht? Müssen wir nicht zugeben, dass das, was dieses « irdische magische Auge » sieht, ganz viele lückenhafte Erfahrungen in unserem Alltag ergänzt? Es gibt wahrscheinlich niemanden, der nicht vom technischen Fortschritt der Fotografie begeistert wäre. Im übrigen überzeugt es mich nicht, wenn Fotografie und Malerei in dieser Weise gegeneinander ausgespielt werden. Soll denn die eine Technik immer nur die Mängel der anderen ausgleichen? Auf diesem Weg kehren wir nur zu unseren überkommenen und angenehmen Sehgewohnheiten zurück.

Antje Majewski:
Es ist ja die Malerei, die sich der Fotografie gegenüber verteidigen muss. Die Möglichkeit, die Zeit anzuhalten und deine Thailandreise in einem Schuhkarton unterzubringen, ist so grossartig, dass die verzerrten und erfundenen Räume in der Fotografie nur eine Zugabe sind. Das frühere Nachdenken über Fotografie geht weitgehend davon aus, dass sie im Gegensatz zum Gemälde dokumentiert, was war. Roland Barthes beschreibt in « Die helle Kammer » die Rührung dem Foto gegenüber, das als Vanitasobjekt beim Betrachter Mitleid hervorruft. Ich kenne dieses Gefühl, das ein Vanitasgemälde ( dessen Inhalt, aber nicht Wesen der Verweis auf die Vergänglichkeit ist ) bei mir nicht erzeugen kann.

Als Beispiel können die merkwürdigen Fotos dienen, die Gesualdo Bufalino in « Il tempo in posa » ( 1992 ) veröffentlicht hat. Sizilianische Hobbyfotografen haben Ende des 19. Jahrhunderts die Menschen um sich herum festgehalten. Man sieht die Töchter aufwachsen und sich verheiraten; man sieht die ledernen Gesichter des Gesindes, die unbeholfene Geste einer Bäuerin, die für den Herrn den Rock hochhebt, die Honoratioren der Kleinstadt. Und natürlich sind heute alle tot. Auf den Fotos waren sie es von Anfang an.

Ich selbst habe es nicht fertig gebracht, die Toten in den Katakomben von Palermo zu fotografieren oder auch meine Grossmutter auf dem Totenbett. Etwas Totes zu fotografieren ist redundant. Alles andere müsste eigentlich ständig fotografiert, oder noch besser, gefilmt werden.

Auch konstruierte, manipulierte, gestellte Fotos wirken nur halb wie Gemälde. In Anne Bigmans « Soul of the Blasted Pine » ( ca.1909 ) sehe ich ein symbolistisches Bild, aber gleichzeitig eine erstaunliche nackte Künstlerin in einem zerborstenen Baum, und ich stelle mir unwillkürlich vor, wie sie damals wirklich ihr kompliziertes Kleid ausgezogen und sich in den Baum gestellt hat. Bei Grace Jones’ Plattencovern oder Tracey Moffatts Fotogravuren und natürlich bei allen photoshopbehandelten digitalen Fotos gibt es dieselbe Zweideutigkeit.

Xie Nanxing:
Worüber ich jetzt reden möchte, ist das Problem der Bildsprache, mit deren Hilfe die Malerei realistische Phänomene darstellen kann. Leute, die sich über die vagen Mittel der Symbole Gedanken machen, mit denen Malerei Wirklichkeit wiedergibt, vertreten häufig die Meinung, dass die realistische Malerei in ihrer Funktion der Berichterstattung oder Dokumentation die Kunstbühne bereits verlassen habe. Wenn die Malerei aktuell dabei ist, sich von dieser dokumentarischen Funktion zu lösen, gerät sie in eine ausweglose Situation. Indem sie nach dem Sinn von « Wirklichkeitsnachahmung » sucht, konkretisiert sich die widersprüchliche Beziehung von Gestaltung und Kontrolle des Bildes.

Anne Krauter:
Was verstehst Du unter der « widersprüchlichen Beziehung von Gestaltung und Kontrolle »?

Xie Nanxing:
Ich denke, der Widerspruch von Gestaltung und Kontrolle entsteht, weil sich die aktuelle realistische Malerei von einem dokumentarischen Stil losgesagt hat. Die Unterschiede zwischen den Bildern ergeben sich nun einzig aus den individuellen Charakterzügen einiger hervorragend begabter Maler. Die Fotografie strebte früher den gleichen Weg an wie die Malerei und hoffte, mit ihr auf die gleiche Ebene zu gelangen. In diesem Bestreben hat sie jedoch ein noch authentischeres Abbild menschlicher Kultur geschaffen.

Die wirkliche Revolution setzte mit dem Fotorealismus ein. Seither entfernt sich die Malerei immer weiter von bestimmten Inhalten, etwa Fragen der Selbstkontrolle und des Ausdrucks. Der Fotorealismus propagiert die Lust an symbolischen Bildern, den künstlerischen Ausdruck verweist er in den Zuständigkeitsbereich anderer.

Antje Majewski:
Die lange Vorherrschaft der ( sozialistischen ) realistischen Malerei in China hat zu einer ähnlichen Unsicherheit dem Medium gegenüber geführt wie deren Verbannung in Europa und Amerika, wo die realistisch-symbolische Bildtradition ausgerechnet in der inszenierten Fotografie überlebt hat. Nicht nur Jeff Wall oder Cindy Sherman, sondern auch jüngere Künstler und Künstlerinnen wie Tracey Moffatt, Sarah Dobai, Matt Collishaw oder auf seine eigene Art auch Matthew Barney arbeiten so.

Xie Nanxing:
Bezüglich der Konkurrenz der Medien ist die hyperrealistische -Malerei ein interessantes Phänomen. Indem sie sich an der Fotografie orientierte, verlor sie sich sehr schnell im unendlichen Dschungel der Fotografien. Schliesslich wurden ihre Ergebnisse in den Bereich kommerzieller Werbung aufgenommen. Gleichzeitig trug diese Art der Malerei dazu bei, dass die Werke des Minimalismus so hoch geschätzt wurden. Wirklich sehr merkwürdig, es scheint, als ob die Menschen auf die Malerei als Malerei hören wollten…

Antje Majewski:
Der Hyperrealismus verschenkt die Möglichkeiten, die die Malerei hat, zugunsten eines simplen Witzes innerhalb des Wettstreits zwischen Malerei und Fotografie. Barthes spricht für die Fotografie von einem « Punctum », das einen trifft wie ein Blitz. Der Hyperrealismus, wie andere Kunstformen auch, will nur punkten. Hat man verstanden, und das geht sehr schnell, kann man weitergehen. Ein gutes Gemälde bildet dagegen einen Zeitraum, in dem man sich durchaus bewegen kann, vor, zurück und seitlich. Ich glaube, dass genau hier die Täuschung der Epiphanie von etwas Unwandelbaren droht, die der Minimalismus auf die denkbar einfachste Weise verspricht.

Xie Nanxing:
In der Tat kann man heute in der Bildenden Kunst hauptsächlich Vorstellungen ausmachen, die wiederholt aufeinander Bezug nehmen sowie Fakten, die man aus einem übersteigerten Klassifikationsstreben heraus ableitet. Man muss sich ernsthaft sorgen, dass diese Art von Kunst an den Rand des Abgrunds treibt. Diese Schwäche, verbunden mit dem « Raubzug », der durch die Betrachtungsweise der Fotografie ausgelöst wurde, hat die Tragödie der Moderne geschaffen.

Peter Pakesch:
Wenn wir dann auch über die Auseinandersetzung mit der Fotografie hinausgehen, kommt mir folgendes Zitat in den Sinn: « Die mit dem Charakter der Wahrnehmung auftretenden Bewusstseinsakte verlaufen so, als ob die von der realistischen Hypothese angenommene Welt der stofflichen Dinge wirklich bestände. » ( Hermann von Helmholtz, « Vorträge und Reden » ) Ist die Malerei nun Überprüfung der Wirklichkeit oder eine Methode zu deren Konstitution? Erzeugt sie sie vielleicht sogar?

Antje Majewski:
Auch das, was ich innerlich sehe, während ich eine Szene beobachte, und was für niemand anderen sichtbar ist, ist Teil der Realität. Während die Fotografie eine Sekunde herausschneidet und konserviert, kann die Malerei die Erinnerungen und inneren Vorstellungen, mit denen wir ständig unsere Gegenwart mit unserer Vergangenheit verbinden und auf denen unsere Urteile fussen, darstellen und für andere sichtbar machen. Malerei kann, wie im übrigen Fotografie und Film auch, die Art unserer Realitätserzeugung verändern; was wir sehen, ergänzt unser Wissen über die « von der realistischen Hypothese angenommene Welt ». Malerei kann uns zusätzlich zeigen, wie die « mit dem Charakter der Wahrnehmung verlaufenden Bewusstseinsakte » bei anderen Menschen aussehen könnten.

Allerdings, und hier hat Xie recht, zeigt einem die Malerei nicht einfach nur die « Aktivitäten im durchsichtigen Gehirn des Malers »: man stösst dauernd auf « Fragen des Bildes ». Malerei ist keine Telepathie; es ist eher so, als würden die Verzerrungen der Stimme, die durch die telefonische Übertragung entstehen, zu einer individuell regulierbaren Kunstform erklärt. Nach längerer Zeit würden feinsinnige Menschen nur noch komplizierte Störgeräusche senden. In diesem Sinn erzeugt realistische Malerei sowohl Wirklichkeit als auch den Maler oder die Malerin ( als Gegenüber des Betrachters ) als auch sich selbst.

Xie Nanxing:
Das Zitat von Helmholtz ist treffend. Es taucht hier im Kontext des alten Mythos auf, nachdem Malerei die Wirklichkeit abbilden oder festhalten muss, während man der Literatur zugesteht, dass sie Wirklichkeitscharakter hat. Ich selbst sehe mich aber genau in dieser literarischen Linie und denke, dass die Kunst durchaus eine Art der Wirklichkeit oder einen Erlebnisbereich schafft, in dem sich der Mensch als Betrachtender und als Reisender zwischen den verschiedenen Wahrnehmungen und Erlebnissen bewegen kann.

Obwohl wir unsere Motive schon immer aus der Realität geholt und diese dargestellt haben, gewannen wir durch die Neubestimmung von Motiven, durch die Wirkung von Symbolen und indem wir das heutige ästhetische Verständnis vom früheren ästhetischen Verständnis unterscheiden, neue Erkenntnisse. Aber die wichtigste Frage sehe ich immer noch darin, ob man heute über ausreichende Mittel verfügt, die Menschen spüren und erkennen zu lassen, was sie von der Welt zu erwarten haben. Eine neue künstlerische Sprache zeichnet sich ab, auch wenn wir noch nicht wissen, was das genau ist, und auch nicht, ob es gute Klänge sind, die wir vernehmen. Da können wir nur abwarten.

Ich würde gerne sehen, dass die Malerei auf eine höhere Ebene gelangt, um Grosses widerzuspiegeln und mit Weisheit und Weitblick Bilder aus den Herzen der Menschen heraus zu schaffen. Wir könnten uns dann auf die Erfahrungen einer grossen Gemeinschaft stützen.

Antje Majewski:
Lieber Xie Nanxing, genau das wünsche ich mir auch.

 

In: Peter Pakesch und Bernhard Mendes Bürgi ( Hrsg.), Painting on the Move, Schwabe Verlag, Basel 2002, S. 202-230