Sonntagnachmittag, zu Hause bei Antje Majewski und Ingo Niermann in Pankow. Jedes Zimmer der Wohnung besitzt eine andere Farbe, so wie früher einmal im 19. Jahrhundert, bevor erfunden wurde, dass alle Wände weiß sein müssen. Das Zimmer, in dem wir uns unterhalten ist violett, aber heller, flieder eigentlich. Der Stadtteil, in dem vor der Wende hohe Regierungsbeamte wohnten, ist heute vor allem grün: mit Alleen, Vor- und Hintergärten. Fast unsichtbar huscht zwischen Büschen hinter dem Haus die S-Bahn entlang. Es geht um Dinge, um die es schon zu lange nicht mehr ging: Zwerge, Erdgeister, Drachen und den Golem. Draußen regnet es sintflutartig.

 

S-Bahn: Ffffiiiiissssuuuuffzkakruffz.

Julia: Huch, fliegen Flugzeuge über Pankow?

Ingo: Das war die S-Bahn. Ich mag das Geräusch ganz gern. Aber jetzt mache ich mal das Fenster zu, dann hast Du sie nicht auf Band.

( Ingo schließt das Fenster.)

Julia: Ihr lebt und arbeitet seit über zehn Jahren zusammen in Berlin. Zuletzt lief Euer gemeinsames Tanztheaterstück Skarbek an der Berliner Volksbühne. Die Premiere fand in Bytom statt, eine Bergbaustadt in Polen. Warum Bytom?

Antje: Ganz am Anfang stand die Einladung von einer Jury für deutsch-polnische Kulturprojekte, etwas zu machen.

Ingo: Vom Büro Kopernikus. Die hatten damals aber noch keinen Namen.

Antje: Das war nach unserer Ausstellung Atomkrieg, in Dresden im Kunstverein, wo ja auch polnische Künstler dabei waren. Ursprünglich gab es die Idee, dass ich wieder eine Ausstellung kuratiere. Dann habe ich gemerkt, dass mich das nicht interessiert, noch eine Ausstellung zu kuratieren.

Ingo: Wir saßen im Rasen und Du hast eine Geschichte über Zwerge gelesen -und plötzlich dachten wir: Wow! Das ist ja genau richtig. Nicht in dem Sinn: ‚Das ist so schlecht, dass es schon wieder gut ist. Überhaupt nicht. Sondern das ist tatsächlich eine Lücke.

Julia: Inwiefern sind Zwerge zur Zeit genau richtig?

Antje: Bei mir fing es damit an, dass ich metallische Bildträger zum Malen gesucht habe, und mich darüber mit Metallen beschäftigt habe und dann festgestellt, dass ich gar nichts weiß über Erdschätze und alles, was unter der Erde ist. Bytom als Stadt liegt direkt über Bergbauminen. Normalerweise gehen Minen bis an die Stadt ran, aber in Bytom wurde direkt unter der Stadt abgebaut.

Ingo: Wir hatten erst die Idee, dass wir an wirklich jeden Flecken reisen, wo es in Polen ein Theater gibt.

Antje: Und dann haben wir genau das Umgekehrte gemacht. Wir haben ein Tanzprojekt gemacht an einem sehr bestimmten Ort. Unter dem Centrum Kultury in Bytom wird in 900 Meter Tiefe abgebaut. Für mich war das ein Gefühl wie von einer Parallelwelt. Man hat eine obere sichtbare Welt und unten drunter noch eine unsichtbare Welt, die in der Tiefe liegt.

Julia: In dieser Parallelwelt gibt es in Eurem Stück Märchenfiguren. Am Ende zwar keine Zwerge, aber Skarbek. Was ist ein Skarbek?

Antje: Ein Erdgeist. Den haben wir aus schlesischen Sagen übernommen.

Ingo: Übersetzt heißt ‘Skarbek’ eigentlich ‘Schätzchen’. ‘Skarb’ heißt ‘Schatz’, ‘Skarbek’ ‘Schätzchen’. Es gibt auch einen Supermarkt dort, der Skarbek heißt. Mit ‘Schätzchen’ ist der Name aber im Deutschen irgendwie völlig falsch übersetzt, da die Verkleinerungsform in Polen sehr sehr beliebt ist. Alles wird verkleinert, von allen Namen wird die Verkleinerungsform benutzt, wenn man die Leute besser kennt. Aus Tomasz wird ‘Tomek’ oder aus ‘Dorota’ ‘Dorotka’.

Antje: Es wurde dann die Geschichte von Menschen, die in eine Mine hinuntersteigen, eine verlassene, und einer von ihnen gräbt dort nach Schätzen und findet mehr, als er erhofft hat. Es gibt Gold, Silber und Kristall, und die treten auf der Bühne auf und reißen die Menschen mit sich, führen sie letztendlich zu einem Berggeist, dem Skarbek.

Julia: Wie gefiel das den Bytomern?

Ingo: Das war ein Riesenspektakel, an einem Samstag. Es kamen etwa 500 Leute. Bytom ist eine kleinere Stadt mit unter 200.000 Einwohnern. Die Leute haben sich in Schale geworfen und davor spielte eine Bergmannskapelle.

Julia: Ihr habt Marschmusik komponiert?

Antje: Neinneinnein. Das war Original-Bergmannsmusik. Gespielt von einer Bergmannskapelle in Originaluniformen mit Federbüschen.

Julia: Ingo, 2003 hast Du in “Minusvisionen” die gescheiterten Projekte von fünfzehn Berliner Jungunternehmern protokolliert. Ist danach ein Stück mit einem Berggeist nicht auch für Dich überraschend?

Ingo: Nein. Davor habe ich ja einen Roman geschrieben. Der Effekt endet unter der Erde. Und der neue Roman auch schon wieder.

Antje: Das Gefühl, dass das Theaterstück erzeugt hat, haben einige wie einen seltsamen Traum beschrieben, von dem man ganz starke Bilder im Kopf hat, die man zeitlich aber nicht verorten kann. Und dass es etwas sehr Bizarres und Bedrückendes hat. Andere sagten, dass ist ja eine Goth-Oper mit Metal! Was ich toll fand. Das hat viel damit zu tun. Und dieses Gefühl ist für mich sehr sehr ähnlich wie das, als ich den Effekt durchgelesen habe.

Julia: Wie sehr gehören die Geschichten zu einem Ort? Ist ‘Minusvisionen’ ein Berlin-Buch und ‚Skarbek’ ein Bytom-Stück?

Ingo: Minusvisionen war ein Gegenbuch, ein Gegenbuch gegen den ganzen literarischen Realismus, den es sonst gibt, den ich so bemüht finde. Statt daß ich mir Gedanken mache, wie das irgendwie eigentlich ist und mir dann dazu eine Geschichte ausdenke, dachte ich, dann wirklich die Leute direkt fragen und erzählen lassen. Die Geschichten, die da sind, von den Leuten, die sie erlebt haben. Sonst wäre ich immer sehr sehr vorsichtig damit, irgendwo hinzugehen und dann denken, aha! – da ist das und das und das – und so Elemente zusammenzuklauben. Ich habe mich immer gesträubt, einen Roman über Berlin zu schreiben. Der Effekt spielt in einer namenlosen Stadt.

Julia: Was spricht gegen einen Roman mit Handlungsort Berlin?

Ingo: Mir wäre das zu zufällig. Und so bei Bytom auch. Wir sind von Skarbek ausgegangen – aber den Glauben an diesen Berggeist gibt es überall auf der Welt.

( Jetzt blitzt es draußen. Zum Sintflutregen ist ein Gewitter dazugekommen. )

Die Geschichte, die wir da erzählen, würde genauso gut in eine mexikanische Bergwerksstadt passen, zum Beispiel.

Julia: Was hat Euch an dem Märchenstoff interessiert?

Antje: Es ist gar kein Märchen. Es ist eine existentielle Parabel.

Donner: Kawumm.

Ingo: Ja, aber Du kannst sagen, es ist ein Märchenstoff, es gibt Märchenelemente. Es ist sehr romantisch geworden.

Antje: Na gut, es ist ein Kunstmärchen, im Sinne von Novalis, Heinrich von Ofterdingen etwa.

Ingo: Ich habe schon einen Moment gezögert, dass man so seltsam in der Zeit liegt. In der Kunst gibt es ja zur Zeit ganz viele romantische Bezüge. Aber das Tolle an dem Stück ist, dass man das wirklich durchzieht als Kunstmärchen.

Julia: Was bedeutet ein Erdgeist für jemand in Berlin?

Antje: In Bytom hat uns das auch ein Journalist gefragt. Ob ich meine, dass das Leute außerhalb von Bytom verstehen? Wenn ich mal eine sehr polnische Antwort geben würde, dann ist das ein Existenzdrama, und man hofft, dass das universell verständlich ist. Das habe ich jedenfalls zu dem polnischen Journalisten gesagt.

( Es blitzt, zum zweiten Mal. )

Ingo: Ich sträube mich gerade gegen Existenz. Einfach weil es sowieso die ganze Zeit darum geht. Man kann auch einfach sagen: Es geht darum, Leute gehen noch mal nach unten, aber sie werden abgewiesen.

Julia: Das erinnert an das Rheingold und den Ring der Nibelungen. Ein Märchen als Kapitalismuskritik?

Antje: Ich glaube, dass alle diese Geschichten darin Platz finden. Die Geschichte vom Sterben hat darin Platz. Bergbauarbeit ist nicht nur körperlich schwer, sondern man ist auch komplett vom Tageslicht abgeschnitten und schwebt in einer ständigen Todesgefahr. Es ist insofern kein Wunder, dass die Bergleute in jeder Region der Welt so eine Gestalt erfinden, die das personifiziert. Die einerseits die Schätze behütet und bewacht und andererseits die Leute straft, wenn sie die Schätze rauben wollen, durchaus auch mit dem Tod bestraft.

Donner: Kawumm.

Antje: Aber die Geschichte von Bytom als Industriestadt, deren Zeit vorbei ist, und die jetzt stirbt als Industriestadt und eine Zukunft finden müsste, mit irgendeiner anderen Form von Ökonomie, die ist auch drin… und das ist zum Teil wohl auch die Geschichte von unseren Städten. Und die dritte Geschichte, die Ingo eben genannt hat – Menschen suchen nach etwas, werden abgewiesen – die ist auch drin.

Julia: Antje, in Deiner Arbeit kommen immer wieder märchenhafte Elemente vor, sowohl in der Malerei als auch in Fotografien. Als Fünfzehnjährige hast Du Fotos von Deiner Schwester gemacht, die sich verkleidet: als Dame, jemand mit Flügeln oder Herr mit Zylinder. Der Fotoband heißt Teenage Pantomime. War für Euch Verkleiden näher am Märchen oder an der Mode?

Antje: Das Interesse für die Kleider war eher Ulrikes Seite. Die konnte schneidern und hat ziemlich verrückte Sachen sich selber gemacht.

Julia: Zum Beispiel?

Antje: Da gibt’s in dem Buch ein Kleid, das sollte so um 1905 sein, mit Sonnenschirm – und das hat sie komplett selber geschneidert. Und das war für gar nix. Das war nicht einmal für eine Geschichte. Das war einfach, weil sie Lust hatte zu schneidern. Ich habe das dokumentiert. Von mir kam eher dieses Bilderstellen. Dass man sich vorher überlegt, was für ein Bild soll das werden und dann hat man eben ein, zwei Fotos – weil ich ja auch kaum Taschengeld hatte – auf dieses Bild verwendet, wofür man einen Tag gebraucht hat, um es aufzubauen… Was war die Frage?

Julia: Ob Verkleiden etwas mit Mode zu tun hat?

Antje: Verkleiden geht grundsätzlich in Richtung Theater. Wir hatten diese Verkleidetruhe, und da waren alle möglichen Sachen drin. Wenn man die anzieht, wird man jemand anders und fängt an, in dieser Rolle zu spielen. Mode ist ja eher so, dass man versucht herauszufinden, wer man selber ist, indem man sich definiert über irgendwelche Accessoires, die man sich um den Körper herumbindet. Und Verkleiden ist das Gegenteil: Die Kleider geben einen selber vor, man phantasiert in die Kleider hinein, welche komplett andere Person man sein könnte – oder auch ein Drache. Deswegen finde ich, dass Mode und Verkleiden nicht viel miteinander zu tun hat.

Julia: Stimmt. Es ist unwahrscheinlich, dass Drache – Sein in Mode kommen könnte.

Antje: Meine Schwester und ich waren beide in einem anti-autoritären Kindergarten und ich glaube, ich werde das bis an mein Lebensende mit Freiheit verbinden, dass man im Dreck spielen darf und irgendwelchen Quatsch anzieht, der nicht vorgesehen ist. Es gibt im Moment so ein 68er-bashing, aber ich finde, ich habe eine ganz tolle Kindheit gehabt und meine Schwester auch. Und es bleibt die Sehnsucht nach so einer Art von Freiheit, wo nicht alle nur A.P.C. tragen – so toll das ist.

Julia: Ingo, jetzt mal als Mann: Im Grunde ist es ein totaler Skandal, dass Männer noch immer keine Röcke tragen dürfen. Frauen tragen doch auch Anzüge. Dabei sehen Jungs in Röcken sehr gut aus, in diesen um die Hüften gewickelten…

Ingo: Hm, na ja, kommt darauf an. Kurze Röcke finde ich ganz gut. Die kann man tragen, wenn man jung ist. Ich habe das auch mal gemacht.

Julia: Du hast Röcke getragen?

Antje: Wir haben das zweimal gemacht: einmal in Warschau und einmal in Paris. Da haben wir Ingo in einen von meinen kurzen A-Röcken reingesteckt und sind dann so durch die Stadt gelaufen. Das war so vor elf Jahren, oder Ingo? In Warschau sind wir in ein Neonazi-Drama reingegangen, Ingo halt in seinem Rock und dann haben wir total schlimme Angst gekriegt.

Ingo: Nur Skinheads im Kino.

Julia: Welchen Film habt ihr gesehen?

Ingo: Romper Stomper.

Julia: Romper Stomper?

Ingo: Das war so eine australische Skinheadgeschichte. Das war wirklich krass damals, frühe Neunziger in Warschau, überall Hakenkreuze. Ich merke dabei, wie konformistisch ich bin, jedenfalls beim Aussehen. Ganz klar, wenn wir jetzt im Barock leben würden und es gäbe es Röcke für Männer – dann würde ich das völlig in Ordnung finden.

Antje: Vor allem die weiße gepuderte Perücke würde Dir gut stehen.

Ingo: Ich glaube, es ist extrem anstrengend, wirklich anders auszusehen. Ich habe eine blaue Carhartt-Cordhose an und einen Kapuzensweater und es ist absolut einfallslos und es ändert sich ja auch nicht. Das ist das Verrückte.

Julia: Bielefeld in den 80ern: Wie siehst Du da aus?

Ingo: Es gibt Bilder, wo ich zur Schule gehe und praktisch das gleiche wie heute anhabe. Und zwar ohne Revival. Ich habe damals schon Hosen ein bisschen zu groß getragen, weil ich das angenehm finde. Und Turnschuhe. Da gibt’s überhaupt keinen Bruch. Und es ist ohnehin eine etwas kindliche Mode, also leugnet man damit, dass man älter wird? Aber ich finde, es gibt keine Alternativen. Designer-Mode für Männer finde ich so fürchterlich, auch Margiela oder so ist Verlegenheit, um dann doch immer wieder beim T-Shirt, beim Sweatshirt zu landen.

Antje: Ob man dieses Sweatshirt dann von H & M kauft oder von Helmut Lang, macht wirklich überhaupt keinen Unterschied, außer dass Helmut Lang so drei doofe Designelemente dran kleben muss, für die man sich total schämt.

Julia: Einstein hat sich fünf Mal den gleichen Anzug gekauft, weil er morgens nicht darüber nachdenken wollte, was er anzieht. Ist immer das gleiche zu tragen, Ausdruck von Faulheit oder nicht eher das Gegenteil, ein sehr liebevoller Bezug zu einem einmal gefundenen Kleidungsstück?

Ingo: Doch, doch. Sehr. Es ist wirklich nicht so, dass ich ein gleichgültiges Verhältnis zu Kleidern hätte. Wenn ich nicht total von den Dingen überzeugt wäre, wäre ich todunglücklich. Ich war auch als Kind unglaublich schwierig, beim Einkaufen mit der Mutter.

Julia: Was war Dein meist gehasstes Kleidungsstück?

Ingo: Ich bin ja tatsächlich konfirmiert worden, das war so ein komischer Schritt. Ich bin gleich danach aus der Kirche ausgetreten. Noch als Fünfzehnjähriger zum Finanzamt, um dann da auszutreten. Und davor ging’s darum, dass ich einen Anzug bekomme.

Julia: Und dann bist Du in Cordhose und Kapuzenpulli konfirmiert worden?

Ingo: Nee, ich hatte einen weißen Rollkragenpullover an, ein bescheuerter Kompromiss. Das Interessante ist für mich, das Prinzip, gar keinen Aufwand zu betreiben, komplett auszureizen. Man muss sich überlegen, wie aufwendig früher Jugendkulturen waren. Wie aufwendig Punk war! Unglaublich! Das hier…

( Ingo zeigt auf Hose und Sweatshirt. )

…. kann man ja auch nicht Jugendkultur nennen!

Antje: Nein, das geht ganz nahtlos über in den grauen Rentnerlook.

Ingo: Ja, genau. Ja, was sind Turnschuhe?! Turnschuhe sind Rentnerschuhe!

Julia: Turnschuhe sind Rentnerschuhe, weil sie bequem sind, gut für die Gelenke?

Ingo: Genau. Und dann sind sie so ein kleiner farbiger Akzent, den man sich da an den Fuß setzt. Das ist ja auch so absurd, dass das einzige Accessoire so weit unten ist, im Dreck, in der Hundescheiße.

( Auf dem Tisch liegt eine japanische Zeitschrift, die eine Berlin-Ausgabe gemacht hat. Darin gibt es sehr viele japanische Schriftzeichen, ein paar deutsche Buchstaben und ein Foto von Antje. “Lebensartkünstler” steht dort auf deutsch und daneben “Antja” statt “Antje” und Galerie “Eugerriemschnieder” statt “Neugerriemschneider”. Nur Berlin wurde leider richtig geschrieben. )

Antje: Das ist doch toll, oder? Antja bei Eugerriemschnieder!

Julia: Wäre die Fünfzehnjährige mit der Kamera, dein Selbstporträt in Teenage Pantomime, zufrieden, wenn sie Dich heute sehen würde?

Antje: Die wäre total überrascht. Ich war ja wie jede Fünfzehnjährige so wahnsinnig selbstkritisch. Mit Vierzehn habe ich gedacht, toll, ich male, also es gibt Matisse und Picasso und irgendwie mich. Das Hauptgefühl bei diesem Gedanken, ich werde wie Matisse oder Picasso, war Freude. Ich habe mich total darüber gefreut, dass ich gerade so etwas Tolles werde machen können. Das ist, glaube ich, eingetreten.

Julia: Weiß man mit vierzehn, man wird Schriftsteller?

Ingo: Nein, das hat ziemlich lange gedauert. Dabei habe ich eigentlich das gleiche gemacht, auch als Vierzehnjähriger, wie jetzt. Gelesen und nachgedacht. Aber ich wollte kein Schriftsteller werden.

Julia: Weil du das als Beruf nicht kanntest?

Ingo: Natürlich kannte ich das. Aber ich wollte etwas noch freieres als ein Schriftsteller sein. Und nicht einfach nur Romane schreiben.

Julia: Was wäre noch freier gewesen?

Ingo: Das, was ich jetzt mache. Damals, wenn überhaupt, wäre der Berufswunsch Philosoph gewesen, aber höchstens noch einer des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Julia: Apropos 19. Jahrhundert – letzte Frage: Ihr habt mal für eine Zeitschrift ein Gespräch im Charlottenburger Bröhan-Museum geführt, inmitten von Sammlungsstücken aus dem 19. Jahrhundert. Warum an diesem vergessenen Ort?

Antje: Die haben ein paar ganz tolle Sachen.

Ingo: Unglaublich, ja.

Antje: Gerade die Jugendstil-Sachen, eben der Jugendstil, den heute keiner mehr rezipieren will. Der Grund, warum das mal als das Unästhetischste überhaupt verschrien war. Glasvasen, unfassbar. So grobes Porzellan und Kayserzinn – wie aus dem Film “Der Golem” … Ich glaube, wir müssen los.

Antje und Ingo sind auf einem Geburtstag eingeladen. Es hat aufgehört zu regnen. Der Golem blieb an diesem Tag damit die letzte märchenhafte Gestalt.

 

In: Liebling, Herbst / Winter 2005, Berlin