“Denn wenn Chloe Olivia mag und Mary Carmichael weiß, wie man das ausdrückt, wird sie eine Fackel in dieser weitläufigen Kammer anzünden, wo noch niemand vorher war. Es ist alles Halblicht und tiefe Schatten, wie diese Serpentinenhöhlen, wo man mit einer Kerze auf und ab geht und nicht weiß, wohin man tritt.”
V. Woolf, Ein Zimmer für sich allein

“Junge Frauen, würde ich sagen… ihr habt noch nie eine Entdeckung von Bedeutung irgendwelcher Art gemacht. Ihr habt nie ein Reich erschüttert oder eine Armee in die Schlacht geführt. Shakespeares Stücke sind nicht von dir … Wie lautet deine Entschuldigung? ”
V. Woolf, Ein Zimmer für sich allein, zitiert in: S. Federici, Caliban and the Witch

 

Die Verbindung zwischen Rosa Luxemburg und Virginia Woolf war mir schon immer besonders wichtig. Ich weiß nicht, warum und wo mir diese Kombination begegnet ist, die für mich bald zur Obsession wurde. Vielleicht hat mich ein Gefühl der Einsamkeit, das diese beiden bekannten Heldinnen des frühen 20. Jahrhunderts teilen, dazu gebracht, sie miteinander in Verbindung zu bringen? Diese Verbindung scheint schwer nachzuvollziehen und ist, anders als einige andere Begegnungen, die aus feministischer Perspektive interessant sind (Emma Goldman und Alexandra Kollontai, die sich 1919 tatsächlich kurz in Kollontais Büro getroffen haben, wie es in Goldmans Living my Life dargestellt wird), eine rein fiktive Übung. Rosa Luxemburg wurde im Januar 1919 gnadenlos ermordet, Virginia Woolf starb zwanzig Jahre später. Beide waren gegen den Krieg, beide waren gegen ihre Zeit. Während Virginia Woolf immer als melancholisch oder depressiv porträtiert wird, bleibt Rosa Luxemburg ein Symbol für Vitalität, standhaftes Engagement und unaufhaltsamer Energie. Sie treffen sich im Fluss – kultureller und politischer Gewalt, von Patriarchat und Krieg – oder zumindest legt die feministische Theoretikerin Jacqueline Rose nahe, dass ihre Tode so verbunden werden könnten: als Folge der patriarchalen Bedingungen ihrer Zeit (Rose, 2015). Aber ist ihre Zeit nicht auch unsere Zeit?

Wenn Virginia Woolf eine Autorin der langsamen Resignation ist, sollte das eigene Zimmer dann vielleicht als eine Idee gelesen werden, die zu Abgeschiedenheit und Tod führt? Für Rosa Luxemburg, der im Laufe ihres Lebens mehrere „Zimmer für sich allein” gewährt wurden (wegen ihrer privilegierten Kindheit in Zamość, aber auch wegen der politischen Entscheidungen, sie mehrfach in Wronki, Breslau oder Berlin in Haft zu halten), war Abgeschiedenheit ein Zustand, mit dem sie leben musste.

Sie hatte ein Zimmer für sich allein und etwas Geld; genug, um in Zürich eine Doktorarbeit zu schreiben, in der sie die ökonomische Entwicklung in Polen diskutierte – dem Heimatland, das sie nie vergessen hat. Sie schrieb auch über die Autonomie der Arbeiterbewegung, untergrub erbarmungslos Imperialismus und Kolonialismus in der kapitalistischen Hegemonie und analysierte die Arbeit ihrer sozialdemokratischen Kollegen. Sie war diejenige, die die Autonomie des russischen Proletariats gegen die geplante Strategie der deutschen Sozialdemokraten verteidigte, womit sie denjenigen an der Peripherie der Bewegung das Recht gab, die Mittel ihres Kampfes selbst zu definieren, entgegen den Führern, die im Zentrum standen.

Ihre mutigen Worte klingen heute bemerkenswert treffend, seitdem erneut eine Welle des Faschismus anwächst. Walter Mignolo hat zu Recht vor einigen Jahren argumentiert, dass die Akteure am Rand des kolonialen Kampfes fast nie für sich selbst gesprochen haben (Mignolo, 2002). In den Debatten über die Weltsysteme des Imperialismus und Kolonialismus hat die Stimme der Kolonialisierten ganz deutlich gefehlt. In dieser Hinsicht geht es den Frauen ähnlich, denn wir sind während eines Großteils der europäischen Geschichte durch männliche Theoretiker definiert, durch männliche Künstler dargestellt und von männlichen Gesetzgebern beherrscht worden.

Die öko-feministischen, anarchischen Arbeiten von Antje Majewski, die die Herrschaft der ausbeuterischen, imperialistischen Logiken umkehren, sind ein besonders wichtiger Beitrag zur kulturellen Landschaft. Ihr „Apfel“-Projekt hat das Interesse an dem weitgehend vergessenen polnischen Avantgarde-Künstler Paweł Freisler neu belebt, dessen Experimente ihre unerwartete Fortführung in einem durch das Kunstmuseum Łódź etablierten künstlerisch-ökologischen Netzwerk fanden. Das Projekt gab den Einwohnern dieser Industriestadt (die für ihre entscheidende Rolle in der Revolution von 1905 bekannt wurde) 100 Apfelbäume, die im öffentlichen Raum gepflanzt wurden. Es trug zur Kunstgeschichte der Malerei bei und erweiterte sie; und regte eine weitgefächerte Beteiligung an der Ausstellung, ihren Workshops, ihrer Multimedia- und Avantgarde-show an (siehe: Majewski, 2015; Kuratorinnen: Joanna Sokołowska and Aleksandra Jach).

Dieses, aber auch das aktuelle Projekt erfüllen in vielerlei Hinsicht die Bedingungen von Bruno Latours Manifest Waiting for Gaia. Composing the common world through arts and politics (Warten auf Gaia. Die Komposition der gemeinsamen Welt durch Kunst und Politik). Am Wichtigsten ist es, dass ihr Projekt ein Gefühl der Verbundenheit und Gemeinschaft ermöglicht hat in einer Zeit, in der scheinbar alle Verbindungen und Bindungen aufgelöst und entfremdete Individuen in einem hoffnungslosen Gefühl der Isolation und Versteinerung zurückgelassen wurden. Bruno Latour schreibt dazu:

Einer der Gründe, warum wir uns so machtlos fühlen, wenn wir uns von der ökologischen Krise betroffen fühlen sollen; der Grund zunächst einmal, warum ich mich so machtlos fühle, liegt in der völligen Trennung zwischen Tragweite, Art und Größenordnung des Phänomens und dem Ensemble an Emotionen, Denkgewohnheiten und Gefühlen, die nötig wären, um mit diesen Krisen umzugehen – nicht einmal, um handelnd auf sie zu reagieren, sondern einfach, um ihnen mehr als ein flüchtiges Gehör zu geben. Deshalb wird dieses Essay größtenteils von dieser Trennung handeln und was man dagegen tun kann. (Latour, 2011)

Dieses Gefühl der Machtlosigkeit wurde bereits diskutiert – von Rosa Luxemburg selbst. In den dunklen Jahren des ersten Weltkriegs und direkt danach, als der Aufstieg der Faschisten zur Macht gerade erst begann, war sie eine dieser Autorinnen und politischen Personen, mit denen man mitdenken konnte, und von denen man lernen konnte, zu scheitern und besser zu scheitern. Loraea Michaelis behauptet, sie habe sich strategisch entschieden, vermehrt zu scheitern, das Scheitern zu lernen und wieder aufzustehen (Michaelis, 2011). In ihrer Korrespondenz ist die Verpflichtung, nicht in Verzweiflung und Enttäuschung zu verfallen und die von ihr so genannte „Verwöhnheit der Privilegierten“ zu vermeiden, ein starkes Element. Statt dessen meint sie, dass die Unterdrückten im gemeinsamen Kampf Zuflucht und Hoffnung finden, weil sie (wir) keine andere Wahl haben.

Während ihrer Gefängnisaufenthalte richtete Rosa Luxemburg ihren Raum ein. Fotos von ihren Zellen zeigen üblicherweise Bücher, Blumen und eine Schreibmaschine. Sie hatte es wahrscheinlich nicht immer so bequem, aber ihre Haftbedingungen waren weit entfernt von denen, an die wir uns bei den Verfahren gegen Angela Davis oder Ulrike Meinhof erinnern. Rosa Luxemburg konnte schreiben, und sie schrieb – indem sie Hoffnung teilte und ihre Verbindungen in ihrer Korrespondenz mit ‚Sonieczka’ Liebknecht, mit ihren Freuden und Kollegen stärkte. Sie war stark. Während sie permanent gegen mehrere Behinderungen ankämpfte, lernte sie, mit einem gewissen Maß an Schmerz zu leben und ihrer Schwäche nicht nachzugeben, sondern sie zu überwinden. Sie verstand auch die Notwendigkeit, zu üben, zu wiederholen und zu experimentieren. Die Rosa mit dem schönen Lächeln und dem großen Sonnenhut oder dem riesigen Dutt ist dieselbe Person, die an verschiedenen körperlichen Missbildungen und monatelangen Inhaftierungen litt. Wie konnte sie so einsam sein (Schmerz ist immer isolierend) und zugleich so verbunden?

In diesem Projekt lädt uns Antje Majewski in einen Garten ein, der mit Pflanzen gestaltet ist, die Rosa Luxemburg in ihrem Herbarium vor und während ihrer Gefängnisjahre gesammelt hat. Es wurde 2009 überraschend im Archiwum Akt Nowych in Warschau gefunden und wurde vornehmlich aus forensischen Gründen berühmt – man hoffte, es könnte Spuren von Rosa Luxemburgs DNA enthalten. Als dann entschieden wurde, es sei forensisch nicht zu gebrauchen, veröffentlichten es zwei verschiedene Herausgeber in Polen und Deutschland als Buch. Die polnische Version trennt Rosa, die sentimentale Pflanzensammlerin, von Rosa, der politischen Theoretikerin und Aktivistin.

Antjes Projekt wiederholt diese Geste der Trennung nicht. Indem sie, wie für sie üblich, im Kontext von Objekten und Netzwerken arbeitet, bietet ihr Projekt Verbindungen und erlaubt es Pflanzen, Gemälden, ehemaligen Gefängniszellen, die gerade für die Ausstellung über Luther und die Avantgarde genutzt werden, sowie den Macher*innen, Kritiker*innen und Besucher*innen in der Politik des Gemeinsamen (‚politics of the common’)wieder zu verschmelzen. Die menschlichen Hauptfiguren dieses Projektes – Rosa Luxemburg, Silvia Federici, Antje Majewski und Ewa Majewska (verbunden durch Namen, Schwesternschaft, gemeinsame Praxis und vielleicht auch eine jüdisch-polnische Herkunft, aber nicht durch „Blutsbande“ und die mit diesem Begriff verbundenen Grausamkeiten) – sind Frauen, und als solche arbeiten wir zusammen: als Künstlerinnen, Theoretikerinnen, Aktivistinnen, aber auch als Bilder und symbolische Figuren, die verschiedene Rollen erfüllen, die die patriarchale Kultur getrennt hielt und die nun wieder vereint sind.

In Antje Majewskis Projekt verschmelzen und vereinen wir uns. Wir erzählen eine Geschichte des Engagements von Frauen in Politik, Kunst, Ökonomie, Kultur und Geschichte, die durch unsere Beteiligung an ihrer Herstellung eine ‚Herstory’ wird, ohne in einem separaten Zimmer eingeschlossen zu werden. Das Zimmer für sie allein wird ein Raum für uns alle: ein Garten, eine Broschüre, eine Reihe von Gemälden, Objekten, Äpfeln, Verweisen, Diskussionen, Freundschaften, Meinungsverschiedenheiten und vielem anderen. Aber der Anfang ist anderswo.

Eine Frau hält einen Apfel. Sie tut dies weder, um den Gläubigen zu gefallen, noch um einem Mythos ursprünglicher Unschuld zu dienen. Sie steht mit dem Apfel in der Diskussion um die Strukturen der Repräsentation. Es ist eine Debatte der Malerin mit Lukas Cranach; eine kunsthistorische Auseinandersetzung. Ein Mythos wird demontiert und ein anderer aufgebaut – ein Mythos ohne Unschuld. Wie in Sadie Plants Nullen und Einsen treffen wir eine neue Eva ohne Hoffnung auf Klarheit oder leuchtende Neuanfänge.

Wie Silvia Federici uns in Caliban und die Hexe in Erinnerung ruft, beginnt die Moderne ohne Unschuld. Strukturell sei es ein hegemonialer Vorgang, der das Subjekt Europa als solches etabliert, wie es Gayatri Spivak treffend formuliert (Spivak, 1999). Federici erklärt, es sei ein Vorgang, der in die Körper der Calibane, der kolonialisierten und ausgebeuteten Klassen der Welt, eingeschrieben sei, einschließlich des Proletariats und der Frauen – denjenigen, die in Shakespeares Der Sturm „in den entfernten Hintergrund verbannt“ sind (Federici, 2009, 11). Es gibt einen erstaunlichen Satz in Rosa Luxemburgs die Akkumulation des Kapitals, der bereits alles sagt: „Die frommen und bibelfesten Holländer, die sich auf ihre altmodische puritanische Sittenstrenge und ihre Kenntnis des Alten Testaments als ‚auserwähltes Volk’ nicht wenig zugute taten, begnügten sich jedoch nicht mit dem Raub der Ländereien der Eingeborenen, sondern sie richteten ihre bäuerliche Wirtschaft wie Parasiten auf eiern Rücken der Neger ein, die sie zur Sklavenarbeit für sich zwangen und zu diesem Behufe systematisch und zielbewußt korrumpierten und entnervten.” (Luxemburg, [1913])

Außer auf den Frauen liegt Silvia Federicis Hauptfokus auch auf den Anfängen der Moderne als wichtigem Referenzpunkt für den neoliberalen Kapitalismus mit seinen primitiven Akkumulationen, seiner Prekarisierung und Wiedererrichtung feudaler Herrschaftsstrukturen (siehe: Federici, 2009; Harvey, 2007). Ihre Rekonstruktion der ausbeuterischen Benutzung weiblicher Körper als Modus kapitalistischer Aneignung und Akkumulation erweitert das Foucault’sche Narrativ von den disziplinierenden Praktiken der Moderne; und widerlegt auch seine scheinbare Geschlechtsneutralität.

Körper von Frauen – unsere produktive und reproduktive Arbeit – waren die ersten, die subsumiert wurden, als die moderne Ökonomie Form annahm. Hexenjagden waren deshalb nicht nur eine Ausnahme in den Anfängen des Kapitalismus; in Wirklichkeit sind sie symptomatisch für die Produktion des europäischen Subjekts als des allgemeingültigen Subjekts. War Rosa Luxemburg ein Opfer dieses Prozesses? Ja, als Frau, als Politikerin und als radikale Theoretikerin.

Silvia Federici postuliert, dass der Körper mehr als eine rein private Sache ist, aber es ist auch keine öffentliche Sache. Indem er Teil der Öffentlichkeit wird, hebt er die Trennung von öffentlich und privat auf. Dasselbe taten die Feministinnen, als sie in den 1960er Jahren sagten: “das Persönliche ist politisch”; das macht Federici mit ihrer Analyse; das passiert in Antje Majewskis „Apfel“-Projekt, das, wie Joanna Sokołowska gelungen zusammenfasst: “(…) die horizontale Versammlung eines diversen Kollektivs aufruft, das in der Lage ist, die gemeinsame Verantwortung für die schwindende Biodiversität der Frucht zu verstehen und zu übernehmen” (Sokołowska, 2016, 55). Eine ähnliche Operation findet hier mit dem Frauenkörper, mit ‚Herstory’, mit Frauensolidarität und Politik statt; mit Paweł Freisler und seinem obstinaten Wirken, dem Apfel, Rosa Luxemburgs Garten, dem Malen, der Kunstgeschichte, der Landwirtschaft und den Bauern, Luther und seinen Äpfeln… Vielleicht sind wir, noch einmal, zu einer transversalen Assemblage eingeladen, in der es um die Transformation der Avantgarde und ihrer Praktiken geht – die sich von einer exklusiven, menschlichen, maskulinen, privilegierten und entfremdeten Praxis zu einer Erschaffung des Gemeinsamen (common) wandelt. Könnte es sein, dass wir an einer wieder anderen Version von Avantgarde teilnehmen – diesmal einer transversalen, die dadurch ihre starke Wirkung entfaltet, dass sie die traditionellen Vorannahmen über die maskuline Figur des Genies, das starke Konzept der Autorenschaft und die individualistischen Voraussetzungen der Arbeit schwächt, bei der Objekte kaum mehr als Werkzeuge sind?

Ich habe Antje Majewskis Arbeit zunächst als gegensätzlich aufgefasst. Ich dachte an das Konzept des „Genies”, an die Trennung des (männlichen) Künstlers und der (weiblichen) Nackten, an das Individuum im Gegensatz zum Kollektiv, das Außergewöhnliche im Gegensatz zum Gewöhnlichen, das Heroische gegenüber dem nicht Heldenhaften und dachte, Antjes Arbeit stünde im Gegensatz zu diesen Tendenzen und Aufteilungen. Wie bei anderen feministischen Künstlerinnen habe ich auch in Antjes Projekten immer ein Entstehen dessen gesehen, was ich gerne „das Schwache” nenne – das nicht-Heroische und Gemeinsame, das ich nicht nur als „allen gemein”, sondern auch als gewöhnlich verstehe (Majewska, 2016). So viele menschliche und nicht-menschliche Elemente von Antjes Arbeit waren „schwach” in der Hinsicht, dass sie sich weigerten, starke Führung, individuelle Autorinnenschaft und die Trennung vom Kontext willkommen zu heißen… Das aktuelle und auch frühere Projekte sind aber nicht schwach in dem Sinn, dass sie wenig bewirken. Im Gegenteil – die Implikationen einer solchen Herangehensweise sind vielleicht stärker als erwartet, sowohl auf der Ebene der Transformation der künstlerischen Praxis als auch derjenigen der politischen Veränderungen, die darin initiiert werden. Nichts desto trotz scheint es, dass es diese Effekte nur mit einer Schwächung der entscheidenden Elemente der historischen Avantgarde zu erreichen sind. Daher die Beschreibung als „schwache Avantgarde“.

Diese Verschiebung in der Praxis der Avantgarde hat sich schon in ihren Anfängen   angebahnt. In seinem Essay Weak Universalism (Schwacher Universalismus) spricht sich Boris Groys dafür aus, die frühe Avantgarde als universalistische und demokratische Kunst zu verstehen (Groys, 2010), und zwar nicht trotz ihrer abstrakten Gesten, sondern wegen ihnen. Die Praxis in Antje Majewskis Projekten ist eine der Transversalität und nicht der Transzendenz, obwohl die Auswirkungen vielleicht ähnlich sind. Von den Prinzipien der Assemblage geleitet, erschaffen ihre Arbeiten das Gemeinsame. Sie sind eher Universalisierungen der praktischen Abstraktionen von Erfahrungen als von abstrakten Übungen der Vorstellungskraft, aber trotzdem… All dies zusammen mit der starken Überzeugung, dass „jeder ein Künstler” sei, macht es möglich, sich nicht nur die Autorschaft des Projekts mit Künstlern (Paweł Freisler) und nicht-Künstlerinnen (Ewa Majewska, Sabine Strauch) zu teilen, sondern sie auch für nicht-menschliche Akteure zu öffnen (Objekte von Freislers Experimenten; den Garten, die Gemälde, andere „Dinge”) und für das Gebäude, die Institution, die Lutheranische Tradition und dem Jahrestag ihrer Entstehung, die Besucher der Ausstellung… die sich zu einem versammelten Kollektiv vereinen und an dem Projekt teilnehmen können. Groys schließt, dass: „künstlerische Aktivität nun etwas ist, das der/ die KünstlerIn mit seiner oder ihrer Öffentlichkeit auf der äußerst gewöhnlichen Ebene der alltäglichen Erfahrung teilt”. Deshalb würde ich Antje Majewski, trotz ihrer vielen Einwände, als eine Künstlerin der „schwachen Avantgarde” bezeichnen.

Später habe ich verstanden, dass Antjes Arbeit vielleicht eine transversale Qualität hat. Statt direkt auf ein Problem zu reagieren, schafft sie Gemeinsamkeiten, Verbindungen, das Gemeinschaftliche, eine Ökologie, die teilt und transformiert. In Die Drei Ökologien schreibt Felix Guattari: „Die traditionellen dualistischen Gegensätze, die das gesellschaftliche Denken und die geopolitischen Kartographien geprägt haben, sind vorbei. Die Konflikte bleiben, aber sie greifen ineinander in multipolaren Systemen, die mit keiner der Rekrutierungen unter irgendeine ideologische, manicheistische Fahne kompatibel sind”(Guattari, 1992, 32). Ich glaube, dass dieser Ansatz (die grundlegenden Unterscheidungen hinter sich zu lassen, ohne die Unterdrückung und die Notwendigkeit der Veränderung zu vergessen) die größte Stärke dieses Projektes ist, aber es rekonfiguriert die Avantgarde auch so, dass sie ihre universalistischen Versprechungen (wie z. B. „jeder ist ein Künstler”) ernst nimmt. Unser Projekt – ich traue mich erst jetzt, es so zu bezeichnen, nun da ich das Gefühl habe, daran teilzuhaben – ist ein Projekt, das die Avantgarde überwindet, indem es ihre Voraussetzungen verwirklicht, ohne sich tatsächlich um sie zu kümmern. Wir kümmern uns um die Erde. Deshalb ist der Raum einer für jeden von uns – ein Ort für uns alle.

 

Literatur:

Silvia Federici, Caliban and the Witch, Autonomedia, New York, 2009.
Silvia Federici, Caliban und die Hexe: Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation. Wien 2012, 3.Auflage
Félix Guattari, Die drei Ökologien, hrsg. Peter Engelmann, Wien 2012, 2.Auflage
Boris Groys, The Weak Universalism, e-flux 15/2010.
David Harvey, Kleine Geschichte des Neoliberalismus, Zürich 2012
Bruno Latour, Waiting for Gaia. Composing the common world through arts and politics, Ein Vortrag am French Institute, London, November 2011, on-line: http://www.bruno-latour.fr/sites/default/files/124-GAIA-LONDON-SPEAP_0.pdf
Rosa Luxemburg, Herbarium, Berlin 2016
Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Berlin 1913 / Berlin/DDR 1975
Ewa Majewska, Peripheries, Housewives and Artists in Revolt: Notes from the “Former East”, in: M. Hlavajova und S. Sheikh (eds) Former West: Art and the Contemporary after 1989, BAK und MIT, Utrecht und London, 2016.
Joanna Sokołowska, Die Äpfel der Zukunft, in: A. Jach et al. (eds), Der Apfel. Eine Einführung. Immer und immer und immer wieder), Sternberg Press, Berlin 2016.
Gayatri Spivak, Kritik der postkolonialen Vernunft, Stuttgart 2013
Virginia Woolf, Ein Zimmer für sich allein [1929], Leipzig 2012